Texte
Grosse Zucchetti
Erika Brugger
Es ist ein heisser Sommertag im Juli. Ein Sonntag, der seinen Namen verdient. Die Sonne brennt vom Himmel. Wir sind zu Besuch im Schrebergarten-Areal, draussen vor der Stadt liegt es, nicht weit vom Fluss. Von ferne klingen ein paar Automotoren, sonst ist es still. Vor mir schreitet Lilly über den holprigen Gartenweg, unter ihren eleganten Sandalen knirscht der Kies bei jedem Schritt und ich bange, ob sie sich halten kann auf den hohen Absätzen, die ab und zu bedrohlich wanken. Ihr Hut wippt bei jedem Schritt, ihr weiter Rock schwingt auf ihren Hüften, das Blümchenmuster tanzt übermütig auf ihrem fülligen Körper. Sie blickt ab und zu zu uns nach hinten und lässt ihre Arme nach rechts und nach links kreisen zu den quadratischen Parzellen entlang des Weges. Hier, sagt sie, hält inne und weist mit dem Zeigefinger zu einem der Gartenhäuser, … hier haben Elisabeth und Köbi ihren Garten, siehst du die schöne Pergola mit dem Geissblatt dort? In einem der Beete am Wegesrand hängen Tomaten an den Stauden in einem Tomatenhaus, dessen seitliche Folien geöffnet sind. Die einen noch grün, die andern röten sich schon; prächtig und prall blinken sie verführerisch im hellen Licht. Lilly seufzt: Wir haben keine Tomaten, leider, seit ein paar Jahren wachsen bei uns keine mehr, sie wurden immer früh braun von der Fäule. Aber die beiden, die Elisabeth und der Köbi, die schaffen das mit ihrem Tomatenhaus, jedes Jahr. Meistens bekommen wir ein paar Kilo davon, weil sie viel zu viele haben. Einen Moment lang schweigt sie, hält an, runzelt die Stirn. Wir sind Gartenfreunde, weisst du?

Hmm, brummt Roberto, ihr Sohn, der an meiner Seite hinter Lilly her schreitet. Über sein Gesicht läuft der Schweiss, er hat seinen Hut vergessen, er blickt unglücklich in die Gartenwelt. Da schau …, Lilly deutet nach links, hält erneut an, das ist der Garten unserer Nachbarn, der vom Hans und vom Andrin. Der eine ist Maurer, er kommt meistens am Abend zum Giessen, der andere ist Lokführer, er kommt tagsüber, weil er nachts mit den Güterzügen durch Europa fährt. Zwei nette Männer, fügt sie hinzu, sie machen viel für uns.

Ich schaue links und schaue rechts, in die Luft und in die Weite, es ist idyllisch hier. Vögel zwitschern, ich erkenne von ferne das rhythmische Pfeifen einer Kohlmeise, um meinen Kopf schwirrt eine Wespe und ich sehe, wie Robertos roter Kopf sich nervös in meine Richtung dreht. Meist gerät er in panisches Fuchteln, wenn eine Wespe im Anflug ist, doch sie sucht brummend das Weite. Jetzt sind wir am Ziel angelangt, im Garten, im Schrebergarten, oder im Familiengarten, wie sie jetzt heissen, wo Lilly in den schmalen Plattenweg einbiegt zur Traubenpergola. Dort wartet Lillys Ehemann am Schatten auf uns, vor sich ein kühles Bier. Der Tisch mit dem Wachstuch ist sonntäglich gedeckt, Kuchen, Tassen mit blauen Blümchen und frischer Kaffee vom Gaskocher warten auf uns.

Zwei Wochen zuvor kam Roberto eines Abends nach Hause, voller Begeisterung, voller Stolz. Wir können einen Garten haben, sagte er, stell dir vor, einen eigenen Garten, wir müssen gar nichts tun, wir können ihn einfach übernehmen. Dann haben wir Gemüse und Salate und Trauben, süsse Trauben, die wachsen schon seit Jahren über die Pergola, und Himbeeren hat es auch, einen Johannisbeerstrauch, die magst du doch so. Im Gartenhaus können wir kochen, das wird fantastisch. Auf dem Heimweg von der Arbeit geh ich giessen und du kannst auswählen, was du pflanzen willst. Er umarmt mich: Was meinst du, bist du dabei?
Meine Tochter blickt kurz und uninteressiert auf von ihrem Buch, mit dem sie am Küchentisch sitzt, um sich für den nächsten Schultag vorzubereiten. Ich bin am Kochen, staune über Robertos Frage und setze mich hin. Wie kommst du auf die Idee? Meine Eltern, sagt er, sie haben einen Schrebergarten, und mein Vater, du weisst schon …, sein Herz macht nicht mehr mit …, jetzt wollen sie den Garten abgeben, und sie würden ihn mir überschreiben. Sie haben grosses Vertrauen in mich. Ich nicke, selbstvergessen, können wir nachher diskutieren, nach dem Essen?

Geistesabwesend und müde von der Arbeit rühre ich in den Penne, als vor meinen Augen ein Tanz beginnt, durch meinen Kopf wirbeln Bilder, vor meinem Mund baumeln Himbeeren, reif und köstlich duftend. Ich schliesse geniesserisch die Augen, schmecke den Duft. Ich pflücke Arme voller Blumen. Kornblumen. Blau-violette Akelei. Glockenblumen. Ringelblumen. Zarte Kelche recken sich. Löwenmäulchen klappen ihre Münder vor meinem inneren Auge auf und zu. Alle die Blumennamen fallen mir sofort ein. So nah das Paradies. Frisch geerntete Kartoffeln garen auf einem Grill. Salate knackig frisch gepflückt.

Ich bin mit einem Garten aufgewachsen. Fünf Fussminuten von unserer Wohngenossenschaft im Aussenquartier einer grösseren Stadt im Norden lag er. Mein Vater war ursprünglich Gärtner von Beruf, und er widmete sich dem Stück Erde am Feierabend mit grosser Leidenschaft. Daher die Blumenpracht in meinem Kopfkino. Meine Mutter hatte ursprünglich Floristin werden wollen, jetzt war sie Hausfrau, und nie habe ich in all den Jahren danach einen schöneren Blumengarten gesehen als den meiner Mutter. Sie säte und zog die Blumen im Rhythmus ihrer Blütezeiten, erschuf damit über alle Jahreszeiten ein in allen Farben und Arten wogendes Feld. Ich sehe sie vor mir, wie sie die Arme ausstreckt und mir mit strahlenden Augen einen Strauss pflückt, sorgsam komponiert nach Farben, den ich jeweils ans andere Ende der Stadt in meine Wohnung mitnehme – und später im Schnellzug auf der Heimfahrt in die Westschweiz. Meine Eltern waren Pioniere des biologisch-dynamischen Anbaus, die Tabelle mit den richtigen Aussaat-Zeiten von Gemüse und Salaten zu den jeweiligen Mondphasen, illustriert mit zarten Zeichnungen der Pflanzen und kleinen Monden, war an den Kühlschrank gepinnt. Heute würden sie nicht mehr belächelt für ihren Eifer, damals riskierten sie den Spott der kunstdüngenden Schreber-Nachbarn und -Nachbarinnen.
Ja warum nicht, sage ich zu Roberto, als wir am Tisch sitzen. Warum nicht? Meine jüngere Tochter war gerade 15 geworden, sie würde noch im richtigen Alter mit einem Garten Bekanntschaft schliessen. Ich müsste mir einen Nachmittag freischaufeln für die Arbeit im Garten, könnte dort, wenn nötig, an meinen Projekten schreiben, den Bienen beim Summen zuhören und Beeren pflücken, so wie früher, als Kind. Jahre später erzähle ich meiner Mutter von dieser Euphorie, davon, wie ich stolz dachte, naja, gärtnern kann ich ja, ich habe es von meinen Eltern gelernt. Sie verschluckte sich fast vor Lachen, und als sie endlich sprechen konnte, sagte sie: Du hast nichts gemacht im Garten, als du ein Kind warst. Du bist auf den Steinplatten zwischen den Beeten herumgehüpft, hast die reifen Himbeeren gepflückt, und manchmal, doch, später, als Erwachsene, das stimmt, bist du in unseren Ferien zum Giessen vorbeigegangen und hast Zucchini und Salat geerntet.

An einem Mittwochnachmittag, den ich, zusätzlich zu den Wochenenden, fürs Gärtnern auserkoren habe, komme ich – müde von der Arbeit – in unsere hundert Quadratmeter Gartenparzelle. Etwa ein Jahr nach jenem heissen Sonntag mit Lilly in der lauschigen Trauben-Laube. Die Euphorie, der Traum vom Gartenglück, hat der Realität Platz gemacht. Wir kämpfen mit Schnecken, die unsere Salate etwa so schnell verspeisen, wie wir sie gesetzt haben, mit zwei alten, verrotteten Komposthaufen voll trockener, lebloser Erde, die wir aufhacken mussten. Bis wir uns in Ruhe vor den Kugelgrill setzen und einen kühlen Apéro trinken können, sind wir meistens erschöpft vom Jäten, vom Giessen, vom Lockern der Erde. Meine Tochter ist begeistert, sie zieht auf ihrem kleinen Beet eine Melonenpflanze, die viele Blüten macht, aber eine einzige Frucht hervorbringt, eine kleine Kugel reckt sich wacker in der Sonne. In ihrem Beet wachsen die schönsten Blumen, sie hat sie eigenhändig angesät und hegt sie mit Hingabe. Ich habe es immerhin geschafft, eine Pfingstrose zu setzen. Das Blumenfeld meiner Mutter, es bleibt wohl ein Traum.

An einem dieser Nachmittage bringe ich meine Gemüseabfälle von zu Hause mit, um sie in unser frisch angesetztes Kompostgitter einzubringen, mit Häcksel zu mischen, wie wir es im Gartenkurs gelernt haben, der für die Neuen vorgeschrieben ist. Ich öffne den Deckel des Behälters, suche im Gartenhaus nach dem Gertel, um die herumliegenden Bündel von getrocknetem Unkraut auf dem Stück Baumstamm zu zerkleinern, da höre ich ein Stöhnen. Der Gertel bleibt stecken, ich lausche. Höre Stimmen, die flüstern, dann wieder ein Stöhnen. Da leidet niemand, das geht mir nach einer Weile auf, da leiden auch nicht zwei, das sind eindeutige, rhythmische Liebesgeräusche. Auf der Alp, da isch käi Sünd …, heisst es doch, im Schrebergarten gilt das offensichtlich auch. Das Stöhnen wird laut und lauter, die zwei Stimmen mischen sich, dann erlöste Ooooohhs. Und Ruhe herrscht. Zur Nachbarparzelle wachsen dichte Büsche. Ich kann nicht ausmachen, wer da liebend herumfläzt. Da ich drüben schon zum Kaffee war und dort manchmal giesse, wenn die beiden Männer in den Ferien sind, vermute ich «Gartenbanksex», mit Absturzgefahr auf den Plattenboden. Ich bin froh um das Gebüsch, das sie vor mir versteckt.

Ein paar Tage später erzähle ich dem Mitbesitzer des Nachbargartens, dem Lokführer Andrin, den ich nicht nicht für den Gartenbank-Liebhaber halte, von meinem Hörererlebnis beim Kompostgitter. Er lacht so schallend, dass vier Krähen vom Kirschbaum kreischend davonflattern. Du glaubst es nicht, sagt er, hier in den wilden Gärten gibts wilde Geschichten. Die zwei haben sich hier kennengelernt, sie ist Lehrerin im Nachbardorf, er ist ein Handwerker aus dem Ort ennet dem Fluss. Die Blicke über die Büsche blieben wohl irgendwann hängen. Beide sind verheiratet, sie wurde von ihrem Ehemann kürzlich vor die Tür gesetzt und wohnt vorübergehend in ihrem Gartenhaus. Er deutet auf ein Gartenfeld auf der andern Seite seiner Parzelle.

So lösen sich Rätsel. Den Garten des Paars hatte ich immer bewundert, er gleicht dem Zaubergarten meiner Eltern mit schneckenfreien Salaten und prächigen Blumen. Ich mag die Frau, aber ich beneide sie nicht. Denn ihr Mann taucht, so heisst es, hier nicht mehr auf. Sie hat die viele Arbeit jetzt allein am Hals, weil sie sich verliebt hat, denke ich, aber wenn ich vorbeilaufe, winkt sie mir vergnügt von Weitem zu.
Mich hat das grosse Gartenglück nicht erwischt, mich nicht, und auch Roberto nicht. So langsam dämmert uns, dass so ein Schrebergarten eine Menge Arbeit in sich birgt. Meine Mutter sagt mir süffisant am Telefon, dass sie etwa fünf Jahre gebraucht hätten, bis damals die Erde soweit neu aufgebaut war, dass sie ertragreich wurde und sie die Schnecken, den Kompost, den Mehltau, die Kartoffelkäfer und die Blattläuse im Griff hatten.

Wenn ich jetzt, aus der zeitlichen Distanz, auf die vier Gartenjahre zurückblicke, dann taucht das tiefe Gefühl von seligem In-der-Erde-Buddeln auf, das seither als Sehnsucht nach krümeliger, duftender Erde in mir weiter schlummert, wohl so lange, bis wieder ein Gartenstück in mein Leben gerät. Ich bin Stunden um Stunden dort gekauert, habe gesetzt, gesät, gejätet, gehackt, geerntet – und die Zeit vergessen. Die 100 Quadratmeter Erde und Haus und Traubenpergola und Geräteschuppen mit immer neuem Werkzeug, unser kleiner Rasen mit dem schiefen Gartenschirm und dem Liegestuhl darauf, der auf mich wartete, das Bier zum Feierabend, frisch gekühlt im Wasser des freistehenden Spültrogs, ... sie sind unvergessen. Das Gefühl, neben meiner kopflastigen Arbeit etwas Fassbares zu leisten, das essbar ist, das riecht, knackt, schmeckt, das WIR gepflanzt, gehegt, grossgezogen haben. Es ist unvergleichlich.

Gelungen sind uns die Zucchini. In allen Schattierungen von Grün und Gelb ziehen wir sie, knackig, jung und zart, in kurzen Längen oder kugelrund. Meiner Schwiegermama, die uns nach der Abgabe des Gartens selten besucht, rümpft aber die Nase. Nach den ersten Lieferungen in ihren Milchkasten auf meinem Heimweg lässt sie ausrichten, sie hätte lieber grosse Zucchetti anstelle der Piccolos. Für eine italienische Seconda haben Zucchetti lang und schwer zu sein, sie werden gefüllt mit Hackfleisch, im Ofen gratiniert, und tutta la famiglia isst davon. Basta. Wir fügen uns, ein paar der Früchte werden an der Staude gelassen, bis sie gross und knorrig sind, und sie bekommt die gewünschte Italianità.

Auch unter unseren Nachbarn tun sich kulturelle Gräben auf. Von den drei Pächtern, deren Felder direkt an unseres grenzen, stammt einer aus Kroatien, wir verstehen uns gut, er leiht uns den Hand-Rasenmäher, wie leihen ihm die neue Kralle zum Lockern. Doch auf der andern Seite zieht eines Tages eine serbische Familie ein, und die beiden bekämpfen einander mit Schimpftiraden und hochgezogenen nationalen Fahnen über unser Gartenfeld hinweg. Unter unserem Haus will eine Pfütze nicht verschwinden, es bildet sich Schimmel, wir müssen ein neues Haus kaufen und den Boden sanieren. Der Nachbar vis-à-vis, auf der andern Seite des Gartenweges, beschimpft mich eines Abends, weil wir das Unkraut auf unserem Wegstück nicht entfernt haben, und er zürnt weiter, sein Kopf wird rot, sein Zeigefinger rotiert vor meinem Gesicht. Er ist klein gewachsen und sein sonnengebleichter Hut hüpft vor meinen Augen vor lauter Aufregung mit. Ich sei keine richtige Gärtnerin, ich passe nicht hierher, hier passen nur richtige Hausfrauen hin …, sagt er, die jeden Tag vorbeikommen und dann abends für ihre Männer kochen, so wie seine Frau das für ihn macht. Auch die Gartenaufsicht ist unzufrieden, wir bekommen eine Mängelliste zugestellt. Warum regelmässig ein giftiger Dampf von Pflanzenschutzmitteln, das der Patriarch mit einer Kanne auf dem Rücken auf seine kostbaren Rosen sprüht, zu uns herüber zieht, … obwohl Bio-Anbau in den Gärten Vorschrift ist? Das wissen die Götter, die im Vorstand des Gartenvereins sitzen.

Jener Tag, da Lilly vor mir her über den Mergelweg spazierte, auf den wankenden Sandalen und in ihrem luftigen Blumenkleid: Er hat sich samt Idylle verflüchtigt, er ist entflogen in den fernen Himmel, schillernd wie ein exotischer Vogel.

 
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17. September 2023
 
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