Texte
Leben mit Demenz – eine Paargeschichte
Irene Leu
Manfred und Margrit Lutz, beide Mitte 60ig, kannten sich seit ihrer Kindheit.
Er war Schreiner mit eigenem Betrieb, sie war Haus- und Familienfrau. Im Betrieb hatte sie alle administrativen Aufgaben erledigt, ungelernt, alles «learning by doing».
Sie wohnten im eigenen Haus auf dem Land und hatten einen großen Gemüse- und Blumengarten.
Beide waren engagiert im Dorfleben und hatten einen schönen Freundeskreis.

Sie hatten zwei Töchter, die etwas entfernt wohnten, und einen Sohn im selben Dorf.
Frau Lutz hatte seit ca. drei Jahren zunehmende Gedächtnisstörungen. Neuerdings hatte sie auch Probleme mit der Wortfindung, und nicht immer sei klar, ob sie ver-stehe was mit ihr besprochen wurde. Sie brauchte bis zu fünf Gänge ins Dorf, bis sie alle Einkäufe beisammenhatte, ihre Körperhaltung hatte sich verändert; so gehe sie vornübergebeugt, den Blick meistens dem Boden zugewandt.
Sie seien gerne unter Leuten gewesen, auch an Dorf- oder Tanzfesten. Margrit Lutz gefiele das aber zunehmend weniger, erzählte der Ehemann.

Der Sohn war Pflegefachmann und Berufsbildner in der Langzeitpflege, er war es, dem die sich verändernde Mutter Sorgen bereitet hatte. Gespräche mit dem Vater darüber endeten regelmässig in Streit, obwohl ihr Verhältnis ansonsten, und bisher, ein freundschaftliches war. Der Sohn initiierte also eine Untersuchung, mit Verdacht auf Demenz der Mutter.
Herr Lutz wurde mir von der ambulanten Abklärungsstelle zur Beratung empfohlen. Sie warnten mich ausdrücklich vor einem schwierigen Angehörigen.
Herr Lutz kam pünktlich zum ersten Termin; ein großer, schlanker, attraktiver Mann. Er wirkte angespannt und wollte nichts von einer Beratung wissen.

«Meine Frau hat keinen Alzheimer! Versuchen Sie nur nicht, mir das auch einreden zu wollen!».

Er habe zu dieser Untersuchung mitgehen müssen, er habe ja nicht gewollt, dass der Sohn mitgehe und da lauter Lügen erzählen würde.

«Unerträglich war das, diese vielen Fragen»!

Dann habe man seine Frau auch noch von ihm trennen wollen bei den Untersu-chungen.

«Aber nicht mit mir! Mit mir nicht!»

Plötzlich stand er auf und ging rastlos und aufgeregt im Büro auf und ab. Auf und ab. Ich beschloss, mit ihm zu gehen, auf und ab. Plötzlich blieb er stehen, baute sich vor mir auf und brüllte wutentbrannt:

«Was laufen Sie mir nach?!»

Er nahm sein Auf- und Abgehen wieder auf, ich auch. Plötzlich setzte er sich hin, stützte das Gesicht in seine Hände und begann zu weinen. Ganz leise weinte er. Ich reichte ihm Taschentücher und wartete. Es dauerte ein paar Minuten, bis er lei-se zu erzählen begann.
«Ich kenne das Gritli seit der Primarschule und ich wusste immer, dass ich sie hei-raten würde. Ich habe die beste Frau die es gibt. Und eine schöne war sie! So eine schöne! Und so eine Liebe! Und jetzt der Sohn!»

Er redete sich wieder in Rage.

«Der behauptet, dass seine Mutter dement ist! Der Sohn ist Pflegefachmann und glaubt, die Wahrheit mit Löffeln gefressen zu haben!»

Jetzt weinte Manfred Lutz wieder. Dann erzählte er, dass er diese Enttäuschung fast nicht schlucken könne.
Ich liess ihn erzählen, wie sie zusammen das ganze Leben gestaltet und zueinan-der gehalten hätten, auch in schwierigen, vor allem wirtschaftlich schwierigen Zei-ten.
Und jetzt, jetzt solle er sie weggeben? Ihr Windeln anziehen? Die Spitex holen für Pflege?

«Sicher nicht!»

Ich wusste nicht, weshalb er jetzt die Sprache auf weggeben und Spitex und Win-deln brachte, vermutete aber, dass die Fachpersonen bei der Diagnose-Eröffnung viel zu viele Informationen ins Gespräch gepackt hatten, ausserdem unglückliche Begriffe wie Windeln. Ich fragte ihn danach und er bejahte; ja, er habe viel gehört und nichts verstanden und ein grosses Couvert erhalten, da seien alle Informatio-nen drin, die er benötige, sei ihm gesagt worden. Er habe es ungeöffnet entsorgt.

Irgendwann stand Manfred Lutz auf und wollte sich verabschieden. Ich fragte ihn, ob wir wieder etwas abmachen können? Nein, er komme nicht mehr. Ob ich einmal nach ihm fragen dürfe? Nein, das sei nicht nötig.

Ich habe es nach einem Monat trotzdem getan, sagte ihm, ich würde ihn gerne tref-fen, falls er das erlaube. Er willigte ein – zu meiner Überraschung.
Ich liess mir beim Gespräch von ihm erzählen, wie der Alltag bei ihnen so aussieht, ob es übliche Tage gebe, wie die Wochenenden verlaufen würden, ob sie an den Abenden etwas unternehmen oder wie sie diese verbringen würden, und was schwierig an ihrem Alltag sei.
Ich erfuhr, dass er als angesehener Geschäftsmann noch kleinere Schreinereiauf-träge annehme. Dass seine Frau sich nun aber ausruhen solle, sie habe ihre Leben lang viel gearbeitet.
Und schwierig sei nichts, es würde seiner Frau nichts fehlen, schon gar nicht im Kopf.

Ich bot ihm ein Familiengespräch an, denn seine Kinder sorgten sich offenbar um ihre Mutter. Vielleicht könnte ich ihnen ein paar Antworten oder Tipps geben, wie mit der Situation umgegangen werden könnte.

Das Familiengespräch fand einen Monat später statt. Die Töchter wirkten hilflos auf mich, der Sohn gewappnet mit Selbstbewusstsein und vielen Fachausdrücken, die ich laufend übersetzte, damit alle verstanden, wovon die Rede war.

Wir besprachen die Untersuchungsergebnisse; vieles wurde von den Jungen be-stätigt, vom Ehemann jedoch sofort bagatellisiert.

Ich hörte von den Töchtern und dem Sohn einiges, worüber Herr Lutz sich aus-schwieg. Wie ihre Mutter im Garten Blumen nicht mehr immer von Unkraut unter-scheiden könne. Die Büsche falsch schneide. Ganze Beete übersehen würde, die anderen dafür so radikal jäte, dass kaum mehr etwas wachse. Wie oft sie nach Wör-tern suche, sie nicht finde und dann im Moment traurig sei.

Ich fragte die Angehörigen, ob Margrit Lutz vielleicht einmal zu einem Gespräch mitkommen möchte?

«Spricht sie über ihren Zustand? Wie geht sie damit um? Ist sie traurig, verzweifelt, oder wütend? Irritiert?»

Nein, ihre Fehlleistungen seien nie Thema, nie gewesen. Sie befasse sich nicht damit. Sie beschuldige aber auch niemanden und sie sei selten traurig, am ehes-ten, wenn sie eben Worte im Gespräch nicht finde. Sie sei meistens zufrieden. Ein Gespräch hier mit ihr würde ihr nichts bringen.
Aufgrund der Schilderungen der erwachsenen Kinder nahm ich an, dass die De-menz doch schon fortgeschritten war.

Herr Lutz kam in der Folge alle ca. zwei Monate zum Gespräch. Wir besprachen Situationen im Alltag und er konnte immer besser annehmen, dass niemand seiner Frau ein Stigma aufdrücken wollte, indem Schwieriges an- und ausgesprochen wurde.
Er verleugnete seine Belastung und Ermüdung immer weniger.

Nach drei Jahren, während dem ich vor allem den Vater, gelegentlich auch die Töchter und telefonisch den Sohn begleitet hatte, drängten sich neue Schritte auf. Herr Lutz wirkte nämlich immer erschöpfter, gereizt auch und manchmal depressiv verstimmt. Er berichtete, nach langem Nachfragen erst, dass er nichts mehr ohne Gritli machen könne. Sie klebe an ihm, wohin auch immer er gehe, klebe an ihm in der Werkstatt, lasse ihn kaum allein zur Toilette gehen, abends könne er schon lan-ge nicht mehr ausgehen, mal ein Bier mit Kollegen, oder ein Fest im Dorf: vorbei.

«Wie steht es mit dem Schlaf bei Ihrer Frau?»

Schlafen würde sie früh und lange. Für ihn seien das willkommene Ruhestunden am Abend, er könne noch Nachrichten oder einen Film schauen oder ungestört te-lefonieren. Und habe stets ein schlechtes Gewissen dabei.

Irgendetwas an seinem Gesichtsausdruck wollte mir nicht gefallen, während er über die Abende und Nächte erzählte. Ich machte mir eine Notiz, um vielleicht ein ande-res Mal darauf zurück zu kommen.

Herr Lutz konnte später in Entlastungsmöglichkeiten einwilligen. Frau Lutz kam also zu uns in die Tagesstätte, vorerst zwei Tage in der Woche.
Sie hatte sich schnell eingewöhnt bei uns, soweit wir das überhaupt beurteilen konnten. Sie hatte ihre Sprache bereits weitgehend verloren. Wollte man sie ir-gendwo hinführen oder sie zu einer Aktivität einladen, waren nonverbale Signale nötig, insbesondere ein Hinführen und an der Hand nehmen. 
Sie war bei jedem Spaziergang dabei, sie hatte ein enormes Bedürfnis, sich zu be-wegen.

Bei einem unserer Gespräche fragte ich Herrn Lutz, was es denn auf sich habe mit den Nächten. Mir sei aufgefallen, dass er sehr angespannt gewesen sei, als er von den Nächten sprach.

«Ich will Ihnen nicht zu nahetreten. Sie erzählen was Sie erzählen mögen».

Er druckste herum. Ich hatte den Eindruck, dass er gerne gleichzeitig reden und schweigen wollte.
Dann erzählte er leise, dass seine Frau eben die beste Frau sei, die er habe be-kommen können. Auch im Bett, also in der Sexualität, also in der Liebe; er verhed-derte sich total, war offenbar nicht gewohnt, über solch intime Belange zu reden.

«Also: wir haben früher regelmäßig miteinander geschlafen!»

«Aber jetzt, ich gehe später als sie ins Bett, und immer später! Ich habe schon rich-tig Angst davor. Weil manchmal schmiegt sie sich an mich und macht mir sexuelle Avancen, so wie es ganz früher auch war. Aber ich kann nicht! Verstehen Sie das?! Ich kann nicht! Gritli ist jetzt wie ein kleines, schutzbedürftiges Kind. Ich liebe sie immer noch. Aber anders. Und wenn ich jetzt etwas Sexuelles mit ihr machen wür-de, dann käme ich mir vor wie ein Vergewaltiger, ein Schänder! Das geht nicht! Und darum schlafe ich kaum mehr, weil ich immer später ins Bett gehe, in der Hoffnung, dass sie dann im Tiefschlaf ist oder ich sofort einschlafe!»

Er erzählt, dass Gritli weine, wenn er sie abweise, obwohl er das so einfühlsam wie möglich mache. Er schiebe Kopfschmerzen vor. Oder Hüftschmerzen. Oder stehe wieder auf und sage, er habe Probleme mit der Firma.

Wir suchten gemeinsam nach Lösungen, die auch für seine Frau stimmen könnten. Es brauchte ein behutsames Nachfragen und Ansprechen von intimen Details, und ich war erstaunt ob der Offenheit von Herr Lutz.
Schlussendlich war die Lösung, dass er in der Nacht ein kleines, warmes Licht brennen liess. Seine Frau sei sehr schamhaft, habe nie gewollt, dass er sie ansah beim Liebe machen.
Ausserdem bettete er ein grosses, weiches Kissen zwischen sie, an das sie sich kuscheln konnte.
So einfach. Und oft funktionierte es.

Margrit Lutz war schon über drei Jahre bei uns in der Tagesstätte.
Der Ehemann schien sich mit der Situation abgefunden zu haben, er wurde gelas-sener. Er beanspruchte immer weniger Gespräche. Es war eine enorme Anpas-sungsleistung, die er vollbrachte! Ich habe ihn fast nie mehr herumpoltern hören; er hatte gelernt, anders mit seiner Irritation, seiner Wut und seiner Trauer umzugehen.

An einem Sommerabend stürzte Frau Lutz, zuhause auf der Treppe, Oberschenkel-hals-Bruch, Spital, Operation, von der sie sich nicht mehr ganz erholen sollte. Es war dann ein Heimeintritt vorgesehen. Doch Margrit Lutz kam diesem Übertritt zu-vor. Sie verstarb ein paar Tage vor dem geplanten Eintritt ins Heim.

Manfred Lutz war während der Spitalzeit oft bei seiner Frau, oft bis spät in den Abend hinein. Er war verzweifelt ob der Ignoranz im Spital der Verwirrtheit seiner Frau gegenüber. Er hatte Angst, dass sie mit Medikamenten ruhiggestellt würde. Um dem zuvorzukommen, war er eben oft bei ihr. Er, der Beschützer!

Gestorben ist Margrit Lutz allein. Der Ehemann war kurz draussen, auf der Toilette und beim Getränkeautomaten. Als er zurückkam, war sie tot.
Er sei noch lange bei ihr gesessen, habe mit ihr gesprochen, ihr gedankt, sie gehal-ten, und erst nach mehr als einer Stunde habe er die Pflegenden gerufen.

Zwei Wochen später ist auch Herr Lutz verstorben. Allein, zu Hause im Bett, nachts. Herzstillstand.
 
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17. September 2023
 
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09. Juli 2023
 
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