Texte
Uganda 1988/89
Thomas Schneider
Winston Churchill nannte das Land «The Pearl of Africa».
1988 und 1989 war ich insgesamt ein Jahr lang als Delegationsarzt für das
Internationale Komitee des Roten Kreuzes in Uganda tätig, kurz nach der
Machtergreifung 1986 des damals jungen Yoweri Museveni aus einer Familie von
Viehhirten der Ethnie der Hima (in Uganda leben vierundsechzig verschiedene
Stämme). Damals hatte er sich zuerst als ehemaliger Mitarbeiter von Milton Obote
gegen diesen Regierungschef und dann gegen dessen Nachfolger Okello
durchgesetzt. Weniger bekannt ist, dass es in den zwei Perioden der Präsidentschaft
unter Obote zu mehr Folterungen und Morden gekommen war als unter dessen
letztem Vorgänger Idi Amin. -

Museveni ist, nachdem er Konkurrenten bei den Wahlen immer wieder behindert,
formaljuristisch ausgeschaltet oder gar inhaftiert hat, weiterhin im Amt. Uganda hat
kürzlich eine traurige Berühmtheit erlangt, weil in diesem Land neuerdings
Homosexualität unter Todesstrafe steht. Der Präsident, der einer evangelikalen
Kirche nahesteht, hält sie für ein Zeichen westlicher Unmoral und interpretiert sie
als Versuch einer neokolonialen Einflussnahme des Westens. -

Als ich meine Stelle antrat, fanden im Norden des Landes noch gelegentlich
Scharmützel zwischen Rebellen der Lord’s Resistance Army von Joseph Kony oder
Anhängern des gestürzten Präsidenten Obote und den Regierungstruppen von
Museveni statt. Insgesamt aber näherte sich der Bürgerkrieg seinem Ende. Die
meisten weissen Mitglieder unseres Teams logierten in einer ehemaligen Villa etwa
zehn Kilometer ausserhalb Kampalas, von wo aus wir mit unseren Wagen zum Sitz
der Delegation in der Hauptstadt fuhren. Die Gewehrschüsse, die wir die ganze
Nacht aus der näheren und ferneren Umgebung hörten, erschreckten mich anfangs
sehr. Hinter der Knallerei steckten allerdings nur Wachen von anderen Häusern, die,
aus Übermut und oft betrunken, Jagd auf die Sterne am klaren Himmel
machten.

Gefährlicher waren die Kontrollen unserer Konvois an den Roadblocks, wo wir
nervösen noch fast jugendlichen Offizieren Rede und Antwort stehen mussten, vor
Augen eine Truppe verwahrloster und zerlumpter Kindersoldaten mit dem Gewehr
im Anschlag, die oft unter Drogen standen. Nur einmal geriet einer unserer Konvois
in einen Hinterhalt der Rebellen, wegen einer Unvorsichtigkeit und
Kompetenzüberschreitung eines unserer weissen Delegierten, die einem schwarzen
Chauffeur das Leben kostete, während der Schuldige mit einer glimpflichen
Beinverletzung davonkam. Wir mussten ihn dann mit einer zweimotorigen Maschine
evakuieren, zurück in die Hauptstadt und von dort aus nach Kenya. Beim Flug hin in
den Nordwesten und zurück über die grüne Pracht des Urwalds musste ich an
Churchills Zitat denken. Aber unter den Wellen eines Ozeans entspannender
Farbschattierungen für die Augen war das Blut unzähliger Verbrechen und Gemetzel
in der Erde gesickert, dass sich beim Gedanken daran der Magen verkrampfte.

Ähnlich wie später beim Besuch des so gerühmt besten Restaurants in der Stadt im
Erdgeschoss des fast einzigen Hochhauses in Kampala, als wir mit den KollegInnen
einmal ein saftiges Steak essen gehen wollten, ich jedoch im Gespräch am Tisch mit
dem Geruch von Fleisch in der Nase erfuhr, dass die Polizei von Idi Amin in dessen
Keller Tausende von Menschen gefoltert und getötet hatte.

Entschuldigen Sie bitte die ausschweifende Vorrede! Worin bestanden denn unsere
Aufgaben? Einerseits in der medizinischen Versorgung von Flüchtenden,
andererseits im Besuch der Gefängnisse von aus politischen und oft auch nur aus
ethnischen Gründen Inhaftierten.

Die Betreuung der Flüchtenden gehörte in erster Linie in den Aufgabenbereich der
Pflegefachfrauen, namentlich die Impfkampagnen, während ich mit einem
medizinischen Team, meist bestehend aus zwei Krankenschwestern, und mehreren
Delegierten, welche die Gefangenen interviewen und Protokolle zu erstellen hatten,
hauptsächlich Gefängnisse besuchte. Hier leisteten wir auch Unterstützung bei der
Behandlung und versuchten die Ernährungslage der Häftlinge zu unterstützen, die
meist massiv unterernährt waren, zumindest in den Männergefängnissen. Wir
diskutierten lange darüber, in unserer Delegation und mit der Leitung in Genf, ob es
gerechtfertigt sei, dem Regime die Arbeit der Versorgung der Insassen teilweise
abzunehmen, aber ohne unsere Massnahmen wären diese verhungert oder an im
Prinzip einfach zu behandelnden Krankheiten gestorben. -

Als einmal ein Lastwagen von uns durchs Tor in den Hof eines Gefängnisses fuhr mit
einer Ladung Mais auf der Ladebrücke, von dem er auf der unebenen Erde immer
wieder ein paar Körner verlor, warfen sich die Häftlinge auf den Boden und krallten
sich diese mit den Fingern und direkt mit den Zähnen aus dem vom nächtlichen
Regen nassen Schlamm. -

Die nicht medizinischen Delegierten führten während unserer Besuche vertrauliche
Gespräche mit den Inhaftierten. Mit den in den Protokollen in anonymisierter Form
erfassten Missständen konfrontierten wir später Mitglieder der Regierung, um
Verbesserungen im hygienischen und gesundheitlichen Bereich für die Gefangenen
zu erreichen.

Zwei Fragen jetzt: Welches war der schrecklichste Augenblick und gleichzeitig der
schrecklichste Anblick während dieser einjährigen Tätigkeit in Uganda? Ohne Zweifel
jener todkranke HIV-Patient, der gleichzeitig an Masern erkrankt war und dessen
Haut sich unter der unheilvollen Wirkung des Virus in nichts auflöste und das rohe
rote Fleisch freigab. HIV war zu jener Zeit weit verbreitet im Land. Die Testung fiel bei
mindestens 25 Prozent der Frauen in den Geburtskliniken positiv aus. Ein
einheimischer Arzt mit einem recht promiskuitivem Leben erklärte mir einmal, er
würde an den Augen der jungen Frauen ablesen können, ob sie sich angesteckt
hätten oder nicht und sein Balzverhalten danach richten. Das Studium hatte er in
England abgeschlossen. -

Und andererseits der fröhlichste Moment? Ich werde mich das ganze Leben gerne an
die Behandlung einer ganzen Belegschaft wegen Krätze in einem Gefängnishof
erinnern. Den Häftlingen zeigten die Pflegefachfrauen vor, wie sie die Besen in die
Flüssigkeit mit Permethrin tauchen und dann ihre Kollegen mehrmals von Kopf bis
Fuss bepinseln mussten. Die Jungen tanzten um den Bottich mit der Medizin herum
und sangen fröhliche Lieder, den Takt mit den Händen klatschend. Ihre nackten
Leiber glänzten in der Nachmittagssonne. Die Begeisterung wuchs, als sie erfuhren,
dass sie am nächsten Tag die wundersame und ja auch überaus wirksame
Behandlung gegen den quälenden Juckreiz wiederholen sollten. -

Um wieviel entspannter und gesünder als bei den Männern, die zu Dutzenden in
stinkenden kahlen Räumen zusammengepfercht waren mit wenigen Stunden
Ausgang im Hof, ging es im Lager der Frauen zu, das wir zweimal besuchten. Kleine
weisse Bungalows auf der grünen Wiese eines Abhangs gelegen, der zum heute
ökologisch stark gefährdeten Victoriasee hinunterführte, gemahnten mit der
wunderbaren Aussicht und der guten Luft an einen Kurort oder mindestens an ein für
Touristen erstelltes Resort. Dass die in blütenreines Weiss gekleideten Frauen von
der Gefängnisverwaltung für uns extra herausgeputzt worden wären, konnten wir
bald ausschliessen. Zu fröhlich begegneten uns die Gefangenen in den Gesprächen,
wenige Klagen über die Behandlung erreichten unsere Ohren in den vertraulichen
Gesprächen, ganz im Gegensatz zu den Berichten über ihre schlimmen Erlebnisse
im Krieg und oft auch bei der Verhaftung, als sie Rebellen und Soldaten schutzlos
ausgeliefert waren. Ihr jetziger Gesundheits- und Ernährungszustand liess im
Gegensatz zu den Männern keine Kritik zu. Abgesehen von den günstigeren
äusseren Umständen wirkten die Frau selber natürlich auch tatkräftig an der
Verschönerung ihrer Wohnstätten mit. Alle Bungalows umgab ein prächtiger
Blumengarten.

Kurz vor Sonnenuntergang sassen beim ersten Besuch die Frauen und Männer
unseres Teams mit ein paar weiblichen Gefangenen vor dem Abschied zum
Plaudern auf der Betontreppe vor einem Bungalow, dessen Vordach hinter meinem
Rücken zwei massive Eisenpfeiler abstützten. Aus heiterem Himmel, auch im
wörtlichen Sinn, erhielt ich plötzlich einen schmerzhaften Tritt in den Allerwertesten.
Ich dachte unwillkürlich, einer der Spassvögel unter den Jungspunden der
Delegierten hätte sich aus Übermut einen Scherz mit mir erlaubt. Als ich mich rasch
umdrehte, erblickte ich jedoch keinen Menschen hinter mir. Hingegen sah ich gerade
noch in gut zehn Zentimetern Entfernung von meinem Körper, wie aus dem Fuss des
Eisenpfeilers ein Lichtbogen in die oberste Treppenstufe fuhr. Es war der Blitz, der
mich in den Hintern gekickt und mich damit auch davor bewahrt hatte, mich
Augenblicke später etwa mit dem Rücken an diese Säule anzulehnen. Müde genug
war ich. Minuten später brach ein Gewitter los. -

Nach dem zweiten Besuch fuhren wir zu viert, mit dem Delegationsleiter, einem
anderen Arzt und einer Pflegefachfrau weiter Richtung Osten an die sogenannten
Quellen des Nil. So wird der Ausfluss des weissen Nils aus dem Victoriasee genannt,
eine Art Katarakt mit glatt geschliffenen grossen Steinen am Ufer, rutschig vom
Sprühnebel des aufgewirbelten Wassers. Ich glitt aus und stürzte auf nicht besonders
elegante Art, aber ohne mich zu verletzen, in den Nil. Ich konnte auch bequem
wieder herausklettern, ohne eines der sprichwörtlichen Krokodile zu Gesicht zu
bekommen, die ja eher ruhige Gewässer bevorzugen. Aber ich fühlte mich in einem
tiefen, beinahe religiösen Sinn von diesem mythischen Strom getauft. -

Auf den Surveys in den Lagern der Geflüchteten und bei der täglichen
Verwaltungsarbeit in der Zentrale in Kampala arbeiteten wir eng mit den
einheimischen MitarbeiterInnen zusammen. Zu den Besuchen in den Gefängnissen
durften sie naturgemäss nicht mitkommen, auch nicht zu den Verhandlungen mit
Behörden und Regierungsmitgliedern. Umso herzlicher waren unsere Begegnungen
in der Gruppe bei der Arbeit und in der Freizeit, wo sie uns in Restaurants und zu
Tanzveranstaltungen führten, mit der für Uganda typischen Musik, damals Kadongo
Kamu. Und uns immer wieder leckere Speisen zukommen liessen, so auf einer Safari
in den Westen – ja, auch diese Möglichkeit bestand einmal am Wochenende, damit
wir uns von der anstrengenden und für manche gelegentlich deprimierenden Arbeit
erholen konnten – eine überaus bekömmliche Erdnussbutter. Elvis Presley wäre
neidisch geworden. Zwischen den Gebäuden der Lodge spazierten Nilpferde, denen
man sich besser nicht zu sehr näherte, nur schüchtern mit ein paar Metern Abstand
von hinten. –

Nicht umsonst fürchteten sich die alten Israeliten vor ihnen. Archäologen folgerten
nämlich aus den Knochenfunden in den ehemaligen Sumpfgebieten im Nahen
Osten, die sich bis heute in wüstenähnlichen Landschaften verwandelt haben: Beim
einzigen Ungeheuer, das in der Bibel ausser dem Leviathan aus den Tiefen des
Meeres genannt wird, beim Behemot, muss es sich ums Nilpferd handeln.
Begegnungen mit diesen Tieren seien in Afrika auch heute für mehr Todesfälle und
schwere Verletzungen verantwortlich als bei allen anderen Wildtieren, vertraute mir
einst ein katholischer Theologe an. -

Auf dem anderen Ufer des nahen Flusses lagerte eine Gruppe fauler Löwen, wenn
sie nicht gerade mit einem Gebrüll für Aufmerksamkeit sorgten. Giraffen stolzierten
zum Fressen mit erhobenen Köpfen von Baumkrone zu Baumkrone. Kurz – dieser
Teil des Landes bereitete sich auf die Zeit nach dem Bürgerkrieg vor. Die Menschen
hier übten sich darin, bald wieder ausländische Touristen in dieser wunderschönen
Landschaft willkommen zu heissen, auch mit komfortablen Betten und leckerer Kost.
um damit Churchills Bemerkung bestätigen zu können. Ihre fruchtbare Erde möge
den Millionen der in den letzten Jahrzehnten umgebrachten Menschen leicht sein.
Wie überall gehört freilich den Kindern die Zukunft - in einem dann hoffentlich
toleranter regierten Land - und damit der Vorrang im letzten Satz. Lässt ein Kind nur
einmal ein Samenkorn fallen, wächst daraus schnell ein junger Baum.
 
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