Texte
Durchs Nadelöhr
Erika Brugger e.brugger@medienbuero.ch
Szene 1
ein Flattern

Kürzlich lag ich in meinem Bett, es war gegen Mitternacht, draussen war es still. Ich versuchte einzuschlafen, einzutauchen in meine innere Stille und in meine Müdigkeit. Da höre ich vom Fenster her ein seltsames Flattern, ein Zischen und Zirpen. Kommt es von der Strasse, läuft jemand auf den Holzlatten vorbei, die über die Gräben in den Trottoirs der Baustelle gelegt sind? Ich dämmere in den Schlaf, da höre ich erneut das leise Pochen, zarte Flügel schlagen an die Fensterscheiben. Ich spitze die Ohren, ich kann nicht erkennen, woher das Geräusch kommt. Vielleicht vom Raum zwischen Fenster und Vorhang? Oder von aussen, dem Zwischenraum zum Rollladen, den ich kurz zuvor heruntergelassen habe? Ich liege da, lausche, sinke erneut in leichten Schlaf, doch die feinen Flügel flattern erneut ans Fensterglas. Es muss ein kleines Tier sein, ein Nachtfalter oder eine Fledermaus, die im Zwischenraum eingesperrt ist und hinausfliegen will. Ich bin nicht ganz wach und kann nicht einschlafen, ich liege da, lausche, bewege mich nicht. Ich bin selber ein kleines, flatterndes Wesen im Universum der Nacht.

Plötzlich, aus dem Nichts der Dunkelheit, taucht eine Erinnerung auf, ein Bild: ein Vogel fliegt verängstigt durch ein Zimmer, ich sehe es vor mir – in der früheren Familienwohnung am Fluss, am andern Ende der Stadt. Im Wohnzimmer war es: es ist die Zeit der Dämmerung, als ich in den Raum komme und Licht mache. Der Vogel, ein kleines, flaumiges, graues Wesen, flattert aufgeregt herum, scheisst verwirrt aufs Bücherregal, schlägt mit den Flügeln ans Fenster, an die Wände, steigert sich in Panik. Ich bin genauso erschrocken, schreite in den Raum hinein, versuche mit ihm zu sprechen, doch er schaut vergelstert vom Rand eines Bilderrahmens auf mich herunter, beruhigt sich nicht. Ich öffne sämtliche Fenster zur Grünanlage, damit er hinausfliegen kann. Aber er flattert weiter im Kreis, blind für den Fluchtweg. Ich lösche das Licht, schliesse leise die Tür. Er wird seinen Weg finden, der verlorene Vogel. Eine halbe Stunde später spähe ich ins Zimmer, es ist leer, keine Spur mehr von dem grauen, kleinen Vogel, er ist ausgeflogen. Er hat zurück ins Freie gefunden.

Szene 2
Geneviève

Meine Mitbewohnerinnen in der Familien-Wohnung waren über mehrere Jahre hinweg meist junge Frauen und Männer, die in die Stadt der Chemieindustrie und der berühmten Architekten kamen – für ein Praktikum, eine Trainee-Stelle, ein Austausch-Semester oder für die erste Zeit eines neuen Jobs. Sie mieteten für ein paar Monate das Gästezimmer, das früher einmal ein Kinderzimmer, ein Jugendzimmer gewesen war, bevor meine beiden Töchter auszogen. Gelandet bei mir in der Fremde, aus der Westschweiz, aus Tschechien, aus Deutschland, Australien, den USA lebten sie in meiner Wohnung, kochten in meiner Küche, flätzten sich auf der Terrasse, lasen auf dem Sofa die Romane aus den Regalen, hatten ihre Freundinnen, Mütter und Väter zu Besuch. Ich redete Französisch, Englisch, manchmal Deutsch. Früher nannte man Frauen wie mich Schlummermütter, Mütter zum Schlummern. Für mich wars eine Zwischenlösung, ein Noch-nicht-Ausziehen-Wollen aus dem früheren Familiennest. So hatte ich mir das ausgedacht. Ich konnte die grosse Wohnung auf diese Weise locker finanzieren. Es erschien mir nachhaltig und klug, zu zweit den weitläufigen Raum zu nutzen. Mein Büro hatte ich, nach langen Jahren in einer Arbeitsgemeinschaft, zu Hause eingerichtet, die Wohnung umgestellt. Wo früher eine Tochter ihr Bett hatte, stand jetzt der Eichentisch, ein Kinderbett wurde zum Gästesofa, an den Wänden Bilder und Collagen in wechselnden Formationen. Sie gefiel mir, meine verwandelte Schlummer-Freelance-Residenz, meine Mini-WG mit den Gästen aus aller Welt.

Auch Geneviève war eine Mitbewohnerin, eine junge Frau aus der Gegend von Yverdon, eine Biologie-Ingenieurin in einer IT-Weiterbildung, die ein Praktikum vis-à-vis unserer Häuserzeile absolvierte, im Hochhaus auf der andern Seite des Parks. Sie lebte zum ersten Mal fern von Mama, früher hatte sie eineinhalb Stunden Wegzeit gehabt zur ETH in Lausanne, jetzt konnte sie aus dem Bett hüpfen und war in sieben Minuten am Arbeitsplatz. Abends kam sie übermüdet von der Bildschirmarbeit nach Hause, erzählte von ihren Tabellen, die in ihrem Kopf weiterschnurrten, sie kochte mit Kopfhörern im Ohr, in denen ihr die Mutter Anweisungen gab für ihren Reis mit Gemüse oder mit Lachs. Dann sass sie geistesabwesend am Küchentisch und redete ins Nichts des Mobiltelefons mit ihrem Freund und ihren Freundinnen.
Ich mochte ihren Strubelkopf mit dem aufgezwirbelten Haar, ihr junges Französisch, ihr «du coup», mit dem ihre Sätze angereichert waren. Manchmal hätte ich gerne mitgegessen, statt selber mein eigenes Essen zu kochen, aber sie hat mich in den sechs Monaten ihres Praktikums nur zweimal zum Essen eingeladen. Schüchtern erklärte sie mir auf meine Frage, sie wolle vermeiden, dass mir ihr Essen nicht schmecken würde, sie sei darin doch noch ganz neu und ungeübt. Erst bei mir habe sie angefangen zu kochen.

Eines Abends kam die Eingebung, unvermutet, unerwartet. Es war im Spätsommer, ich sass am Küchentisch und beobachtete Geneviève beim Kochen, und plötzlich wusste ich, dass es Zeit war zu gehen. Mit grosser Klarheit stand der Beschluss vor mir, ich war wütend, von mir selber überrascht, so plötzlich fremd bei mir zu Hause, plötzlich versetzt in eine andere Welt, die einmal meine sein würde. Es war Zeit zu gehen, Zeit, die Familienwohnung zu verlassen, Zeit, allein zu leben. Allein, nach den vielen Jahren als Familienfrau, als Partnerin in getrennten Familienformen, als schlummernde Vermietungsmutter, als ein Vogel in einem Käfig, den ich mir selber gebaut hatte, der nicht mehr meiner war. Es war ein sicheres Gefühl, keine Entscheidung, nur ein Wissen: ich muss weg!

Szene 3
Auf Wohnungssuche

Ich komme mir vor wie eine alte Bärin, die aus ihrer Höhle tritt, nach langen Jahren ihr Waldstück verlässt und sich im nächsten Tal, in das sie sich bisher nicht vorgewagt hat, auf die Suche nach einer neuen Höhle macht. Ich bin verwachsen mit meiner Wohnung, mit der Umgebung, ich kenne die Gesichter, die Freund*innen. Ich kenne den Lärm aus dem Park, die Dealer dort und ihre Verstecke für die Cannabis-Beutel, den Partykrach abends. Ich kenne die Läden, die Strassenzüge, das Licht, das Leben, den Geruch, die Luft. Ich bin hier eingewachsen, verwurzelt, ein-gewohnt. In meinem Haus ist alles unverrückbar geregelt, alle Sätze sind tausendmal gesagt, alle Kräche mit anderen Bewohner*innen hundertmal ausgestanden. Wenn ich hier weggehe, bin ich allein. Wird es mich wollen, das neue Tal?

An einem Donnerstag regnet es in Strömen, ich laufe über die Brücke, über den Fluss, stemme mich mit meinem dunkelgrauen Schirm gegen Regen und Wind, gegen meinen eigenen Widerstand, gegen die Idee auszuziehen, gegen eine neue Wohnung, und schon gar nicht auf der andern Seite des Flusses. Doch die Wohnung, die erste in einer Reihe von zehn, die ich besichtigen werde, ist derart schön, dass es schmerzt. Drei grosse Zimmer, eine gemütliche, riesige Wohnküche, eine Terrasse zum Garten, auf der man tanzen könnte, hohe Räume mit Stuckatur und Eichenböden. Unten wohnt die Besitzerin, und sie schreibt vor, dass nur eine Person die Wohnung bewohnen dürfe, weil sie die Schritte von oben nicht ertrage. Ich könnte hier in meinem Home-Office keine Beratungen durchführen, sie will wissen, wer ein- und ausgeht. Ich komme mir vor wie in einem Mädchenpensionat, ich dürfte also auch keinen Partner haben, kein Liebesleben, meine Töchter könnten nicht ein- und ausgehen, wie sie wollen, kein Gast könnte einziehen für ein paar Wochen. Auch der Garten ist tabu, sie züchtet dort Rosen. Als ich absage, antwortet der Verwalter, dass ich sie bekommen hätte. Die nette alte Dame, mit der ich im Eingang wegen meines tropfenden Schirmes geplaudert hatte, mochte mich sofort. Sie war die Besitzerin.

Abends erzähle ich Geneviève davon, und sie fragt entsetzt: Ziehst du meinetwegen aus? Wohin soll ich gehen, wenn ich bei dir mein Zimmer nicht mehr habe? Nein, sage ich, nicht deinetwegen, ich muss einfach wieder allein leben. Nach den vielen Jahren muss ich wieder Ich sein in meinen vier Wänden, die nur mir gehören. Ich muss zurück zu mir, zurück zu der unabhängigen, freien Frau, die ich einmal war. Für dich werden wir schon etwas Neues finden.

Die Suche der folgenden Monate gleicht einem Reigen freundlicher Gesichter, die mich in ihren Häusern und Wohnungen willkommen heissen. Einmal begleitet mich ein Hausbesitzer bis zur Haustür hinunter und legt mir nahe, mich zu bewerben. Eine junge Frau beschwört mich, ihre Wohnung zu mieten, sie würde sich einsetzen für mich. Neun Wohnungen habe ich durchstreift und abgelehnt, in der zehnten schaut mich der junge Verwalter über die Köpfe der Besichtigungsgruppe hinweg eindringlich an und sagt: «Bewerben Sie sich bald»! Es ist die Wohnung, die ich unbewusst gesucht hatte, und ich bekomme sie. Sie umfängt mich, sie ist meine neue Höhle, auch wenn sich die Baustellen im neuen Tal meiner neuen Höhle als lärmiger herausstellen, als ich sie eingeschätzt hatte. Aber so ist mein neues Leben, nicht ganz perfekt. Zweizimmer-Wohnungen, so scheint es, sind für Damen wie mich, seriös erscheinend und nicht mehr jung, eine sichere Sache, jedenfalls passe ich ins Angebot, sehr viel mehr als damals, auf meiner letzten Suche vor fast zwanzig Jahren, als noch zwei halbwüchsige Mädchen an meiner Seite waren, die ihr stadtnahes Quartier liebten und das Tal nicht wechseln wollten.

Szene 4
Räumen

In der Zeit bis zu meinem Auszug schien es mir, als gerate der Boden ausser Kontrolle, der sichere Boden, auf dem ich mich in den letzten Jahren bewegt hatte. Als liefe ich über Rollen, die sich unter mir verschoben. Ich spielte in einem Film, war die Hauptdarstellerin von Szenen namens Davonlaufen, Brücken abbrechen, alles hinter mir lassen, untreu sein. Nicht wissend, in welcher Existenz dieses Abenteuer enden würde. Wer ich sein würde, dort, im Niemandsland.

Ich war nicht nur die Hauptdarstellerin, ich führte auch Regie, und die Schauplätze waren zunächst ein Keller und ein Estrich. Der Kellerraum, eine 40 Quadratmeter grosse Fläche im Untergeschoss einer modernen Siedlung ein paar Strassen weiter, gehört zum ehemaligen Büro, das ich mit mehreren Leuten über fast zwanzig Jahre geteilt hatte und den wir zu zweit weiter gemietet haben, um dort das Archiv der früheren Arbeitsgemeinschaft unterzubringen. Hierher sollte, so mein Plan, alles verschoben werden, was ich nicht definitiv weggeben wollte und was in meiner neuen, kleineren Wohnung keinen Platz haben würde. Denn über den Lauf der Jahre war in unserem grossräumigen Estrichabteil, das zur Familienwohnung gehörte, unterm Dach ein Fundus zusammen gekommen, der sich aus Möbeln, Regalen, Kinderkleidern, Spielzeug, 70-er-Jahre-Kleidern und Erinnerungsstücken zusammensetzte, die aus irgendeinem Grund frühere Räumungsaktionen überlebt hatten.

Doch bei näherem Betrachten des Kellerraumes zeigte sich, dass Verwandte der ehemaligen Bürogemeinschaft diesen Gedanken früher als ich gehabt hatten und ihre alten Betten, Langlaufskis, Bilder und Regale dort abgestellt und vergessen hatten. Statt mit meinem eigenen Räumen zu beginnen, räumten wir zuerst über mehrere Tage die Gegenstände anderer Leute weg, entsorgten sie, ich versank im Staub, im Ärger, in der Mutlosigkeit, im Mief der ausgelagerten Gegenstände, die nicht meine waren. Die mich mit boshaftem Grinsen anmeckerten: So schnell schaffst du es nicht wegzukommen!

Es war die Zeit der bösen Geister, der Abgründe, der Altlasten, die ich bisher fröhlich übersehen hatte. Und es war die Zeit der guten Geister, der Freunde und Freundinnen, meiner Töchter, die alle vor der Tür standen, die wussten, dass ich zwar allein in die neue Wohnung zog, aber nicht alleine den Weg dorthin nehmen konnte. Dass sie Teil meines Lebens waren und es bleiben würden. Ein Freund, den ich lange nicht gesehen hatte, bot mir an, ein Transportfahrzeug zu mieten und Entsorgungsfahrten zu machen. Der Freund, mit dem ich den Keller weiterhin gemietet hatte, verbrachte ganze Nachmittage mit mir, um den Keller zu entrümpeln. Meine Töchter stiegen mit mir in den Estrich hinauf, sichteten und ordneten, ganze Wochenenden stiegen wir schwitzend und schnaufend hinauf und hinunter mit den Stapeln unserer Vergangenheit. Wir staunten über Puppen, die aus Kisten und alten Puppenwagen im diesigen Estrichlicht auftauchten, uns daran erinnerten, dass sie als Wesen geliebt worden waren. In einer Ecke schlief ein aufblasbarer Delphin, auf dem die Mädchen einst im Meer geritten waren. Klimpernde bunte Trennvorhänge, die einmal an ihren Türen gehangen hatten in ihrer Teeniezeit, lagen verwurstelt hinter Regalen. Girlanden mit romantischen Lämpchen wanderten in ihre Taschen, um anderswo einen Platz zu finden. Staunend knieten wir vor der Verkleidungskiste mit dem Fundus alter Kleider, mit denen sie sich als Kinder in Prinzessinnen, Hexen und Geburtstagsgeister verwandelt hatten, ein Spitzennachthemd der Grossmutter bekam sogleich ein neues Leben als modisches Sommerkleid. Bilder aus ihren Kinderzeiten lagen in Mappen hinter Regalen, die Kunstwerke waren jahrelang an den Wänden des Korridors, der Küche, des Wohnzimmers gehangen. Sie waren erneut hervorgekramt worden, als eine meiner Töchter in der Ausbildungszeit eine schriftliche Arbeit über die pädagogische Bedeutung von Kinderzeichnungen verfasst hatte. Manchmal stritten wir da oben unterm Dach, was wir behalten wollten, was ins Brockenhaus, an den Strassenrand oder in den Abfallsack wandern sollte. Wir lachten und kicherten bei den Begegnungen mit unseren alten Ichs, die wir abgelegt geglaubt, vergessen hatten, die in den Gegenständen auf dem Estrich still weitergelebt und auf unser Entdecken gewartet hatten.

Szene 5
Ge-Wohn-heiten

Eines Morgens fällt mein Blick auf die Bildergalerie im Wohnzimmer an einer Wand: mit Bildern einer befreundeten Künstlerin, einer Collage mit gepressten Herbstblättern, einem Druck meiner Tochter, einer Skizze einer Freundin. Ein Kaleidoskop meiner bescheidenen Kunstsammlung. Wie eine Fremde stehe ich mitten im Raum, am Boden festgewurzelt, ich betrachte die Wand, den Eichentisch davor mit den Stühlen rundum. Und denke: das ist jetzt der Abschied. Wie eine Fremde drehe ich mich langsam um mich selbst, betrachte die Bücher im Regal, die Fäden, die am Fenster von der Decke baumeln, an denen ich vor einem halben Jahr einen Holzstab mit Weihnachtsschmuck befestigt hatte. Stolz auf die karge Umsetzung von Weihnachtsklimbim mit Kugeln, die im einfallenden Licht schimmerten, mit Schmuckfiguren aus Zeiten, als meine Kinder strahlend ihre Engel nach Hause brachten. Ich bin die Fremde, die mein eigenes Wohnzimmer anschaut, die mein vergangenes Leben inspiziert, aha, sage ich laut zu der Fremden, das war hier dein Leben, damit bist du vernetzt und verwachsen, hast du insgeheim gehofft, dass du hier nie mehr weggehen könntest? Dass du es nicht schaffen würdest, dich davonzustehlen aus deinen Gewohnheiten, aus deinen Erinnerungen an das viele Leben, das sich hier in den Jahren mit deinen Töchtern, mit ihrem Aufwachsen und ihrem Von-dir-Wegwachsen, aufgestaut hat?

Ich schlage die Bedeutung von Gewohnheit im Wörterbuch nach und erschrecke über das Wort «Wohnen», das zum Ursprung von «Ge-wohn-heit» gehört. Als junge Frau bin ich ausgezogen aus der Wohnung in der Genossenschaft meiner Eltern, aus dem Aussenquartier der Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Danach zog ich quer durch die Schweiz: in die Berge für ein paar Jahre, zurück in meine Geburtsstadt, aber an deren anderes Ende, vorne am See, weit weg von meinen Eltern. Ein paar Jahre folgten in der Romandie, danach zog ich in die Nordwestschweiz, wo ich bis heute lebe.

Ich reise zurück in meine Kindheit, ins Wohnzimmer meiner Eltern, die es in den Sechzigerjahren zu Wohlstand gebracht hatten. Im Wohnzimmer dominierte die Farbe Grün. Ein Philodendron wuchs mit seinen handförmigen Blättern von einer Ecke des Wohnzimmers hoch über dem Sofa zum Fenster, wo er sich zur Terrassentür wand und von dort über die Bücherwand in Schlaufen zurück. Er hatte ein enormes Wachstum und war der Stolz meiner Mutter. Wenn ein neues, hellgrünes Blatt hervor lugte, war es ein Ereignis. Sie fürchtete wohl, genauso wie wir Kinder es hofften, dass der Philodendron, ein beliebter Landeplatz des Wellensittichs, irgendwann von selber aufhören würde zu wachsen. Unter dem grünen Gewächs standen ein blau-grünes Sofa mit zwei ebenso blau-grünen Sesseln gegenüber, in der Mitte ein mit einem Mosaik belegter Salontisch. Wenn an Samstagen unvermutet Verwandte auftauchten, wurde dort geplaudert und dazu ein Schnäpschen in handbemalten Miniaturkelchen serviert. Mein Vater war stolzer Besitzer eines Citroën Déesse, auch dieser in der Farbe leuchtenden Grüns. Wie oft hat er mir erklärt, dass der Wagen mit Hydraulik funktioniere, die dafür sorge, dass das Fahrzeug jeweils Richtung Asphalt absoff, wenn es am Strassenrand parkiert war, und sich auf Normalhöhe aufplusterte, wenn er damit von dannen fuhr. Wohnen war für meine Eltern ein Zelebrieren, und wenn ich heute in den Boutiquen die teuren Design-Bücherregale aus den Sechzigerjahren betrachte, dann taucht das Wohnzimmer meiner Eltern wieder vor meinem inneren Auge auf. Der Philodendron, die Bücherwand, das Mosaiktischchen, die passenden Vorhänge mit leuchtenden Tulpen, darüber die Draperie, eingefasst von Posamentenborten, der Citroën vor der Haustür, sie waren Kult, sie waren stolz zur Schau getragenes Familienglück, Teil der Identität einer ganzen Eltern-Generation.

Meine Mutter lebt noch heute in einem der Häuser neben jenem mit unserer damaligen Familienwohnung, in derselben Genossenschaft, mit den Nachbarinnen von früher, Witwen wie sie, die zu Jass-Freundinnen geworden sind. Ich habe die Enge der Gewohnheiten meiner Eltern damals, als junge Frau, nicht ausgehalten, ich mochte sie nicht, die innige Verbundenheit mit den Räumen, Treppenhäusern, Grüssritualen und der Waschküchenordnung, ich bin geflüchtet. Ich lebte über Jahre hinweg mit einem Minimum an Hausrat, das knapp in einen VW-Bus passte, wenn ich in einen anderen Landesteil zog. Und doch verzeihe ich heute meiner Mutter ihre liebevollen Gewohnheiten, ihre Zuwendung zum alten Stubentisch und dem metallenen Pferdekopf an der Wand, den mein Vater vor Jahrzehnten geschenkt bekam. Weil ich vielleicht gar nicht so anders bin. Weil ich doch in meinen Räumen und meinen Gewohnheiten über eine Zeit meines Lebens genauso verschwunden bin, sie zu einem Teil von mir gemacht habe, ohne mir dessen wirklich bewusst zu sein. Jetzt stehe ich da, verliere sie, muss mir neue schaffen, und was wird dann aus mir?

Szene 6
Haus, gelb, wärmegedämmt

Mein neues Wohnrevier ist geprägt vom Fluss auf der einen Seite, von den Türmen der Chemieindustrie, die ihre wandernden Schatten auf unsere Terrassen und die Gärten im Hinterhof werfen. Bei Unwettern pfeifen und summen sie, erinnern an zwei Orgelpfeifen. Die neuen Bauten der Chemie erzeugen eine Menge Baulärm und bringen uns demnächst in die Nachbarschaft mehrerer tausend Tagesbewohner, die in die weissen Pyramiden und Kuben einziehen werden. Daneben liegt, dem Fluss entlang, die stadtbekannte Rennstrecke, auf der sich jeden Morgen und jeden Abend zu den Stosszeiten sämtliche Arten von Velos, Trottinetts und Veloscootern jagen, um aus der Stadt hinaus in die Wohnquartiere zu gelangen – oder umgekehrt. Mein neuer Park in der Nähe heisst jetzt Solitude, einen Bahnhof haben wir und ein Stück Autobahn, auf der andern Seite des Reviers schiessen Wohntürme in die Höhe, überragen den Messeturm, nur gerade zur Stadtmitte hin wird es gemütlich, fast provinziell.

So sieht es also aus, mein neues Tal, hier habe ich meine Höhle gefunden. Dort wo meine Strasse, eine lange Allee, ihren Anfang nimmt, wo Villen und Jugendstil-Häuser von Pärken umgeben sind, wohnen Prominente. Abends führen feine Damen im Chanelkostüm ihre Hündchen aus, die an den Trottoirrändern zwischen den Blättern wuseln. Auf den Trottoirs werde ich manchmal freundlich nickend als eine hier Ansässige gegrüsst. In einem Vorgarten wachsen Hortensien über den Zaun hinaus; manchmal, in der Dämmerung, pflücke ich diskret ein paar der weissen und pinken langstieligen Blüten, die beim Blumenhändler weiter vorne sieben Franken das Stück kosten.

Mein neues Haus ist zitronengelb und bis unter die Ziegel wärmegedämmt, wir blicken nordwärts auf die mit duftenden Linden bepflanzte Allee und auf eine Anlage gegenüber – mit einem Blick in die Ferne und in den Himmel. Wenn die Linden blühen, blüht mein Schlafzimmer, es blüht meine Wohnung, mein Bett ist ein Lindenblütenbett, der Blütenstaub kitzelt meine Nase, ich niese den ganzen Tag. Nur zwei Wochen nach meinem Umzug, im Winter 2020, beginnt der Shutdown, morgens erklingt statt des Verkehrs ein Vogelkonzert, ich zähle halb im Traum fünfzehn verschiedene Vogelstimmen, ich fühle mich im Paradies, bis der Tag beginnt und die neue Realität namens Pandemie in den Alltag einzieht.

Szene 7
Tanzen vor der Höhle

Wenn ich heute in meine neue Wohnung heimkehre mit ihren zwei Zimmern und der grossen Küche, der lauschigen Terrasse, erfasst mich ein Gefühl von Befreiung, von Übermut, ich bin verliebt in mein neues Daheim, es ist mein neues Kleid, luftig, leicht, es umfängt mich, ich tanze darin, tanze, tanze, wie die Bärin vor der Höhle im neuen Tal. All jene, die mir sagten, es warte die grosse Freiheit auf mich, nach dem Umzug – sie hatten Recht. Ich fahre mit dem Velo in mein altes Tal hinüber, auf den Markt, dem ich treu bleibe, zum Apotheker, dem ich treu bleibe, zu meinen Freund*innen dort, denen ich treu bleibe. Einem der Zügelmänner hatte ich voller Freude erzählt, dass ich jetzt eine wirkliche Single sei, endlich nach all den Jahren wieder allein lebe, dass ich mich so darauf freue nach den langen Familien-Schlummer-Jahren. Er guckt mich erstaunt an, blickt verlegen von der Seite auf mein breites Bett und fragt sogleich, ob ich ein Date wolle mit ihm. Nein, sage ich, nein, nein nein! Er guckt verständnislos, er versteht nicht, warum eine Single glücklich sein soll. Es ist MEIN neues Leben, es ist mein Zauber, ich werde von vorne beginnen, mein Leben noch einmal ganz von vorne beginnen.

Vor ein paar Tagen stand ich nachts vor dem Lavabo in meinem Bad, und spürte von oben ein feines Zirpen, eine zarte Bewegung. Ich blicke hoch und schaue ins Gesicht eines Heugümpers, der sich an der Decke über mir festhält, ein grosses, grünes, filigranes Tier. Wie kommst du denn hierher?, frage ich ihn, schliesslich wohne ich im zweiten Stock. Das grüne Heupferd, lese ich im Lexikon, kann tatsächlich fliegen. Ich öffne das Fenster, am andern Morgen ist es verschwunden.
 
schliessen
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17. September 2023
 
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09. Juli 2023
 
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