Texte
Ich bleibe
Erika Brugger
Es sind die andern,
die gehen,
ich nicht,
ich bleibe,
ich bleibe hier,
in diesem Land.
Ich weiss nicht, warum.
Es ist richtig für mich.

Wir zogen um die Häuser,
wir hatten dieselben Freunde,
dieselben Freundinnen, dieselben Kleider,
mal trug sie meine, dann trug ich ihre.
Den ersten Lippenstift,
die erste Nacht,
du musst es wissen,
dieselben Worte, geheime Worte,
geflüstert, niemand weiss davon,
dieselbe Musik, denselben Rhythmus
des Lebens.

Sie zog aus
aus diesem Land,
weg von diesem Kontinent,
verliess mich, verliess uns alle,
verliess ihr Zimmer,
ihr Zuhause,
ein Rätsel,
und schrieb später einmal,
aus einer Stadt in Uruguay.
Ich denke an dich,
du fehlst mir,
vielleicht bleibe ich,
vielleicht komme ich zurück.

Sie blieb dort,
in der Fremde.
Ich bleibe hier, im Vertrauten,
und im Unvertrauten,
vor der unbekannten Zukunft.
Mit den Freunden.
mit unseren Freunden
und Freundinnen
jener Zeit
zog ich weiter um die Häuser
ohne dich, ohne deine Arme,
um meine Schultern gelegt,
ohne das Kitzeln
deiner gekringelten Haare
an meinem Hals.
Ohne deine Kleider.

Wie oft wir dort noch sassen,
vor unserem ersten Bier,
vor unserem ersten Wein,
im Rauch, in den Spiegeln,
das wilde Leben, wir waren wild,
ungestüm, grenzenlos.
Ich bleibe
ohne unsere Worte, unser Flüstern,
unser Wissen.

Deine Augen, deine feine Adlernase,
dein freches Lachen.
Dein spöttischer Blick.
Einmal lag eine Spritze dort
in deinem Zimmer,
in der Ecke, auf dem Boden,
und du hast seltsam gelacht,
mit einem verlorenen Blick
Und ich wusste nicht, wusste nichts,
verstand nicht,
ein Mann, ein neuer Mann
an deiner Seite, ich kannte ihn nicht.

Zurück von Uruguay,
bleibst du verschwunden,
in einer Klinik,
seist du,
nein, keine Drogen,
Verzweiflung,
ich wusste nichts,
bis du mich besucht hast,
im Hochtal,
in den Bergen.
Weg von der Stadt.

Dann zog es dich erneut
über den Atlantik,
in den Norden hinauf,
du hast dich der Esoterik zugewandt,
erzählte dein Bruder.
Nein, sie ist gesund, soweit,
aber sie ist allein, wir wissen nicht,
wir wissen es nicht,
wir schicken ihr Geld.
Sie wird wissen, was sie tut.

Sie zog weiter,
verschwand ganz aus meinem Leben,
ohne Briefe, ohne ein Zeichen.
Sie sei jetzt Therapeutin geworden,
sagte ihre Mutter zu meiner Mutter
ein paar Jahre später.
Die Mütter, sie wissen,
wissen alles, und sie wissen nichts.
Ich bin traurig,
ich habe sie verloren.
Sie ging weg.
Und ich bin geblieben.

Die, die bleiben,
trauern auch, haben auch ihr Heimweh
nach denen, die gegangen sind.
Zu bleiben ist nicht einfach,
wenn die Liebsten gehen,
wenn ein Band
gerade erst entstand, wie im Spiel,
und doch bleibt.
Wenn man gerade gefunden hat,
gerade verstanden hat,
gerade geliebt hat und berührt ist und umarmt hat
und weiss, was Gemeinsamkeit ist.

Oder sind es die Berge?
Unverrückbar, rätselhaft, ewig da.
Sie wollte ans Meer, an irgend ein Meer.
So viele zieht es ans Meer.
Hier sind die Berge, kein Meer,
keine lauen Nächte das ganze Jahr,
keine Musik in den Strassen
den ganzen Tag.
Keine süssen Blüten, keine exotischen Früchte.
Nur Himbeeren
Brombeeren
und Heidelbeeren an den Sträuchern
in den Bergen.

Vielleicht gibt es Berg-Menschen
und Meer-Menschen.
Vielleicht ist sie eine Frau des Meeres,
trägt die Ahnen der Ozeane in sich,
und es zog sie weg, weit weg,
wo niemand ihre Sprache sprach,
niemand wusste, wer sie war.
Niemand ihre Geheimnisse kannte,
keine Freundin ihre Arme
um ihre schmalen Schultern legte,
Ahnungen mit ihr teilte,
von der Zukunft,
die auf uns wartete.

Es sind vielleicht
die Meer-Menschen,
die weggehen, die es im Land der Berge,
der Kälte, der Seen,
der Städte, dicht an dicht,
des Reichtums, der Banken,
nicht aushalten.
Menschen, die die Weite brauchen,
die Wellen,
um atmen zu können,
weite Horizonte, Wüsten, Kontinente,
Feuer und Sturm.
Einsamkeit,
und die nicht wissen,
was morgen kommt.
Die verloren sind.

Und es sind die,
die auf Berge steigen,
Steine mögen, schimmernde Felsen
in Grau,
grüne Matten und Wasserfälle,
die bleiben.
Die in den Tälern
und den Ebenen herumziehen,
um die Berge herum.
Die in Städte ziehen,
wo sie die Berge
von Weitem
sehen können.
Oder zu Hügelzügen und Wäldern.
Oder an Flüsse, deren Wasser
aus den Bergen kommt.
Gerüche von feuchtem Laub,
das nach der Kühle der Berge riecht.

Die Sterne sehen, die Milchstrasse,
die in den Bergen aufleuchtet,
hell, verheissungsvoll glitzernd,
wie nirgends sonst
auf der Welt.
So nah sind sie
dort
in den Bergen,
die Sterne.
So nah.
 
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