Texte
Sonntag-Abend // Bettina
Karin Bongartz
Sonntag-Abend, ich habe die ganze Nacht frei,
genauer gesagt von 19.15h bis 6.15 h.
Mein 10jähriger Sohn schläft heute Nacht bei seinem Vater.
Heute habe ich etwas ganz Besonderes vor! Einen Femme Fatale Auftritt
an einer Tango-Milonga im Volkshaus.
Ich stelle meine Requisiten und Kleidung zusammen:
Meine roten Tanzschuhe, Absatzhöhe 6 cm! Meine neue, nicht ganz billige Netz-Strumpfhose, meinen bewährten kurzen Samt-Rock, die lachsfarbene Spitzenbluse und einen Long-Blazer aus Samt und Figur betont!

Noch habe ich Zeit, die Milonga beginnt um 21h.
Ich lasse das Wasser einlaufen. Nach dem Bad versuche ich meinen Haaren einen Toach „wild und doch gebändigt“ zu geben.
Ich setze den Lockenstab an und das Licht geht aus. Die Sicherung ist draussen. Der Lockenstab hat kurz nach Ablauf der zweijährigen Garantie den Geist aufgegeben.
Im Bademantel und mit Taschenlampe gehe ich in den Keller und drehe die Sicherung rein.
Jetzt versuche ich die Haare mit Toupieren in Form zu bringen, so wie ich es mit 15 gelernt habe.
Das Ergebnis ist kläglich.
Ich schminke mich auf dramatisch. Das wasserfeste Mascara ist trocken, Schei.!
Dann nehme ich halt das wasserlösliche.
Ich streife meine neue Netz-Strumpfhose über meine Beine. Super!
Dann den Samt-Rock Grösse 34. Etwas knapp, ich habe in den letzten Wochen zugelegt. Nur mit Mühe geht der Reissverschluss zu.
Die lachsfarbene Bluse ist verknittert. Ich hole das Bügelbrett und das Bügeleisen und schalte das Bügeleisen es ein.
Das Telefon klingelt, ich gehe dran, dumm genug!
Trudi teilt mir freudig mit, dass sie „Meertrübli-Konfi“ (deutsch Johannis-beeren-Marmelade) gemacht hat, nur für mich! Seit elf Jahren sage ich ihr, dass noch nie „Konfi“ gegessen habe und es auch für den Rest meines Lebens nicht vorhabe.
Aus dem Nachbarzimmer riecht es nicht gut. Ich klemme das Telefonat ab und laufe zum Bügelbrett. Zu spät, die lachsfarbene Bluse ist zerstört.

Jetzt brauche ich erst einmal ein Glas Wein!

Ich beschliesse, dass ich nicht so schnell aufgebe. Ich suche und finde eine neue Bluse, schwarz, mit dem Alters-Riss sieht sie leicht Gothic aus.
Jetzt noch den Long-Blazer und die roten Schuhe. Nicht schlecht!

Zum Essen habe ich keine Zeit. Ich hole schnell ein Joghurt aus dem Kühlschrank und löffle daraus im Stehen.
Platsch! Ein weisser Fleck auf dem schwarzen Blazer. Ich renne zum Waschbecken und versuche den Fleck auszuwaschen, mit wenig Erfolg!
Meine anderen Blazer sind Figur umspielend, dann lieber Figur betont aber mit Fleck.
Jetzt noch Bordeaux roten Lippenstift! Whow!
Vor dem grossen Spiegel drehe ich ein paar Ochos links und rechts und sehr lasziv.
Einen grossen verführerischen Ausfallschritt. Ratsch! Die Naht vom Rock ist offen. Mein Hintern verweigert definitiv die Kleidergrösse 34.

Es klingelt es an der Haustür. Ich beschliesse nicht zu öffnen!
Es klopft an der Tür. Heftig! Ich erinnere mich: Mein Nachbar Peter.
Ich habe versprochen, ihm meinen Staubsauger auszuleihen.
Ich rase zur Tür, der 6 cm Absatz des rechten Schuhs bleibt an der Türschwelle hängen und knickt ein.
Ich humple mit einem Schuh weiter, vorbei am Rattan-Sessel, Zip, die 30 fränkige Netz- Strumpfhose bleibt hängen und hat ein Riesenloch.
Mir kommen die Tränen, das wasserlösliche Mascara verläuft.

Ich öffne die Tür.
„Mein Gott, wie siehst Du denn aus! Halloween ist doch längst vorbei!“
Ich schluchze hemmungslos, das restliche Mascara verläuft über beide Wangen.
„Tut mir leid, so habe ich es nicht gemeint“.
Doch hat er! Ich gebe ihm den Staubsauger und schiebe ihn zur Tür hinaus.

Ich lasse mich in den Fernsehsessel fallen und greife zur Fernbedienung.
Bevor ich beim „Tatort“ einschlafe, geht mir noch ein Satz durch den Kopf „Und, was haben wir daraus gelernt? Morgen ist auch wieder ein neuer Tag!“ Ich übersetze das für meine Situation als alleinerziehende Mutter 
«Und was habe ich daraus gelernt?
Der nächste Sonntag kommt bestimmt!
Genau in einer Woche!»




Bettina

Bettina ist anders, anders als die anderen Tangotänzerinnen. Sie würde sich niemals auf einem WC umziehen, niemals. Sie ist eine Dame.
Immer erscheint sie komplett und tanzfertig angezogen an einer Milonga.
Wie aus dem nichts. Haare, schwarz wie Ebenholz, Dauerwelle, frisch geföhnt, als käme sie direkt vom Coiffeur- Salon und mit einem Makeup perfekt, wie von einer von der Kosmetikerin gestylt. Ein Deuxpièces, wie angegossen, Seiden-strümpfe, Tanzsandaletten Absatzhöhe 12 cm, immer, bei jedem Wetter, selbst bei Regen oder Schnee ohne Winterjacke, ohne Mantel, ohne Stiefel.

Ich weiss nicht, ob sie mit dem ÖV, dem eigenen Auto oder dem Taxi kommt.
Sie steht plötzlich in der Tür. Eine Erscheinung. Über 60 und doch ohne Alter.
Ich weiss nicht, ob sie verheiratet war oder ist, geschieden, verwitwet.
Sie kommt immer ohne Begleitung. Jeder fordert sie auf, auch jüngere Männer. Sie verschwindet jedes Mal ohne Begleitung und ohne Mantel oder Jacke.

Eines Tages geschieht ein Wunder.
Bettina erscheint wie immer, neu an ihrer Seite ein unbekannter Mann.
Ob er jemals und falls ja und bei wem einen Tangokurs absolviert hat, ist Allen unklar.
Man wartet aus Anstand 20 Minuten. Dann durchquert Peter den Raum.
Peter ist ein sehr guter Tänzer. Er hat immer wieder mit Bettina getanzt.
„Darf ich bitten.“ Er fordert sie auf.
Unbekannt antwortet für Bettina laut und deutlich „NEIN“. Innerhalb von zwei Sekunden wissen alle 60 Anwesenden was passiert ist.
Bettina steht auf, zum ersten Mal mit unschönen roten Flecken im Gesicht. Sie verlässt den Raum wie immer ohne Mantel oder Jacke. Unbekannt folgt ihr.
Jeder im Raum weiss, dass diese „junge Beziehung“ die nächsten zehn Minuten nicht überleben wird.
Jeder weiss, dass Bettina dieses Lokal nie wieder betreten wird.

Ich weiss`, sie wird wieder Tango tanzen, an einem anderen Ort.
















 
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