Texte
Aufwachen und Einschlafen
WfW vom 21. April 2024, TAG und NACHT
Claudia Wirthlin
Aufwachen

Von sehr weit weg dringt ein einzelnes kräftiges Krächzen durchs offene Fenster in ihr freiliegendes Ohr. Das unmelodiöse knarrende Geräusch des schwarzen Rabenvogels kitzelt und kratzt an ihrem Tiefschlaf. Ohne Erfolg. Alma kennt das Gekrächz zu gut und bemüht sich im Unterbewusstsein, nicht darauf zu achten. Das klappt auch diesmal. Ein einzelnes Krächzen - und sei es noch so rabiat - genügt nicht, um ihr die schläfrige Wohligkeit aus den Gliedern zu treiben. Auch die Stimmen der kleineren Vögel nimmt sie von ferne zwar wahr, aber sie dringen nicht wirklich in ihr Bewusstsein vor. Der Aufregung nach zu schliessen sind es wohl Spatzen. Was die schon wieder zu streiten haben so früh am Morgen? Einige Meisen werden auch dabei sein bei dem lauter werdenden Zwitscher-Konzert, welches jetzt im Hinterhof wellenartig an- und abschwellt. Wer weiss. Sie dreht sich genüsslich auf die andere Seite und gleitet für eine weitere Runde in den Schlaf.

Seit sie frühmorgens nicht mehr ruckartig aus den Federn muss, liebt Alma den Zustand zwischen Schlafen und Wachwerden am frühen Morgen über alles. Sie gibt sich ganz dem Genuss dieser Zwischensphären hin, in denen Gefühle, Gerüche, Klänge, Gedanken und Bilder aus der Traum- oder Schlafwelt sich mit denen aus der Tagwelt vermischen und verbinden und oft im Unklaren bleibt, aus welchen Welten die einzelnen Elemente kommen und wohin sie treiben.

Schon dringen aus der Wachwelt die Glocken der nahegelegenen Kirche an ihr anderes Ohr. Die verschiedenen Einzeltöne wirbeln durcheinander und fügen sich unaufhaltsam zu einer harmonischen Tonwolke zusammen, zu einer Art Klangteppich, der sie in die Weiten der Innenwelt trägt und auf welchem sich trefflich weiterruhen lässt. Im Halbbewusstein nimmt sie dabei wahr, dass es jetzt kurz vor sieben sein muss. Beim Versuch, die sieben Schläge der Kirchenglocken mitzuzählen, gleitet Alma unausweichlich in die nächste Tiefschlafphase.

Die findet gegen acht Uhr ihr abruptes Ende: der rotgetigerte Kater reklamiert mit einem Riesensatz den Platz an ihrer Seite, wie jeden Morgen um diese Zeit. Er lässt sich durch nichts vertreiben, schmiegt sich möglichst nahe an ihren schlaftrunkenen Körper, legt die Vorderpfoten über ihren nackten Arm. Alma ist - im Dämmerzustand - eine leichte Beute. Nach wenigen Augenblicken dreht sich das pelzige Getier halbwegs auf den Rücken und lässt entspannt den Kopf auf die Brust sinken. Leises Schnurren und leichtes Schnarchen breiten sich wie eine flauschige Decke über dem Bett aus und begleiten Alma für eine weitere halbe Ewigkeit in den erneuten Schlaf.

Als gegen neun der Wecker schrillt, weiss sie nicht, wie ihr geschieht. Es dauert einen guten Moment, bis sie es schafft, ihn zum Schweigen zu bringen. Der Kater ist alles andere als begeistert ob der Ruhestörung. Er meckert lautstark, dann streckt und reckt er sich, gähnt ausgiebig, dreht sich um sich selber und will sich von neuem in Almas Armkuhle betten. Diesmal kommt sie ihm jedoch zuvor, setzt sich auf die Bettkante, reckt und streckt sich ebenfalls, gähnt dreimal hintereinander und stellt sich vorsichtig auf die Füsse. So, jetzt ist sie bereit: ihr Tag kann beginnen. Heute will sie eine Geschichte mit dem Titel «Aufwachen» schreiben.

Einschlafen

Das besondere Abendblau am Frühlingshimmel zeigt an, dass auch dieser Tag langsam zur Neige geht. Das Blau ist zwar noch hell und blass, doch auf ganz besondere Art intensiv. Alma setzt sich einen Moment auf den Balkon und beobachtet den Himmel, der sich über den Häusern der Wohnsiedlung auftut. Schon bald erscheinen die ersten Sterne, Flugzeuge hinterlassen flackernde Spuren und ein Schnitz Mond, eingebettet in einen riesigen runden Hof, erinnern sie an die stimmungsvolle Illustration zu einem Schlaflied im bekanntesten Kinderliederbuch der deutschsprachigen Schweiz. Tröstliche Welt, heile Welt, Maggi lässt grüssen, bis heute, millionenfach.

Alma lässt ihren Gedanken freien Lauf, lässt den Tag Revue passieren, während ringsum die Lichter in den Behausungen der Nachbarn angehen und das Gekreische der Kinder im hinteren Teil des Innenhofs nach und nach verstummt. Auch Kinder werden mal müde. Eigentlich schade, dass sie ihren längst erwachsenen Sohn nicht mehr mit einem Gutenachtlied in den Schlaf wiegen darf, denkt Alma, plötzlich ergriffen von einer wehmütigen Stimmung. Leise summt sie vor sich hin: «Schloof, Chindli schloof» und «Ayo nene, nene tutti». Ihre Wehmut ist allerdings verflogen, sobald sie sich die allabendliche Prozedur des Zubettbringens konkret in Erinnerung ruft. Wie das damals an ihren Kräften zehrte, das Kind ihre Geduld auf die Probe stellte! Und wie oft war sie noch vor ihm eingeschlafen!
Nein, Alma möchte diese Mühsal nicht nochmals erleben. Alles zu seiner Zeit, denkt sie.

Seit sie im Ruhestand ist, muss sie niemandes Ansprüche oder Vorgaben mehr erfüllen, kann dem eigenen Rhythmus folgen: wie wunderbar! Von diesem Privileg möchte sie kein Quäntchen mehr hergeben. Jetzt ist sie die grosse Zeit-Meisterin. Sie allein kann bestimmen, wann der Tag beginnt, wann die Nacht. Sie kann sogar die Nacht zum Tag machen oder den Tag zur Nacht.

Alma wirft einen letzten Blick auf den Mond und steht auf. In der Küche wärmt sie die Pasta vom Vortag, macht einen Salat und setzt sich mit dem Teller vor den Fernseher. Der Kater wartet ungeduldig zu ihren Füssen, bis sie mit dem Essen fertig ist und die Beine auf dem Sofa ausstreckt. Mit einem Satz landet er auf ihrem Schoss und verlangt nach den allabendlichen Streicheleinheiten. Alma, ebenfalls ganz Gewohnheitstier, fügt sich ohne gross zu reklamieren.

Dann bringt sie die «Flimmerkiste» - ein Wort aus ihrer Kindheit - zum Schweigen und greift nach dem obersten Buch auf dem Beistelltisch mit dem Titel: «The Evidence of Things not Seen» (übersetzt bedeutet das ungefähr: die Offensichtlichkeit/Augenscheinlichkeit der Dinge, die wir nicht sehen.) Die geniale Ausstellung der amerikanischen Fotografin (Carrie Mae Weems) hat Alma zutiefst beeindruckt. Seit sie die Künstlerin vor zwei Tagen live erlebt hat, treiben Alma erst recht Fragen nach der Wahrnehmung der Dinge und nach der Wahrheit um: Was sehen oder übersehen wir? Was bleibt unserem Blick verborgen und weshalb? Was hindert uns daran, die Dinge so zu sehen, wie sie sind? Wie sind sie denn überhaupt und warum? Womit begründen wir, dass sie uns als wahr oder real oder doch mindestens als plausibel erscheinen?
Alma lässt sich ganz auf diese philosophischen Fragen ein, versinkt in den Katalogtexten, die tief in ihr drin auf Resonanz stossen. Dabei macht sie einmal mehr die Erfahrung, dass Bücher Welten zum Vorschein bringen, von denen sie nicht mal gewusst hat, dass sie überhaupt in ihr schlummern. Es ist, wie wenn sie beim Lesen ihrem Selbst ein Stück näher käme.

Auch an diesem Abend, der unmerklich weit in die Nacht hineingreift, vergisst sie beim Lesen ganz die Zeit. Kurz vor Mitternacht steht sie dann doch auf, putzt schnell die Zähne, löscht überall die Lichter und geht ins Bett, das der Kater am Fussende bereits vorgewärmt hat.
Die Nachttischlampe verbreitet ein wohlig-gemütliches Licht, in dessen spärlichem Schein Tahar Ben Jelloun sie in die Altstadtgassen von Marrakesch entführt. In der nächsten Erzählung bläst ihr in Tanger der berühmt-berüchtigte eisigkalte Ostwind um die Ohren und vermischt sich mit den nächtlichen Sturmböen, die draussen durch den Hinterhof der Basler Wohnsiedlung fegen und die Rollläden des Balkonfensters zum Klappern bringen.
Alma löscht finalement das Licht und gleitet – den Windböen und dem leisen Schnurren des Katers lauschend – langsam in den Schlaf. Wieder einmal ist ihr die halbe Nacht zum Tag geworden.
 
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