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Was ich noch zu sagen hätte…
«Ich schreibe über das, woran ich leide»
Esther Maag
Ich schreibe über das, woran ich leide, hat der kürzlich verstorbene Peter Bichsel einmal sinngemäss gesagt. Ich hatte nicht gelitten an ihm, sondern wir hatten viel gelacht. Ich verdanke ihm die Erkenntnis, dass Reduktion reich macht. In einem mehrtätigen Workshop – organisiert vom Schweizer Radio, bei dem ich damals als Journalistin arbeitete – gab es für uns nur den Struwwelpeter – einmal erzählt in Hexametern, einmal erzählt in Stabreimen, einmal erzählt ohne Artikel und einmal ohne den Buchstaben M und einmal ganz ohne Verben. Einschränkung macht kreativ.

Das ist mir geblieben. Auch das mit dem Leiden. Das habe ich zwar eben erst gehört in einem Podcast zu seinem Tod, aber es trifft auch meine Schreibleidensgeschichte. Manchmal bedaure ich beinahe, dass ich zu einem recht heiteren und gelassenen Menschen geworden bin, denn daran leidet mein Schreiben. Ich sehe mich nur noch selten genötigt, mein eigenes Leiden mit Schreiben zu verarbeiten. Ich hoffe deshalb, dass sie nicht zu sehr leiden, wenn ich nun über das Leiden an der Welt schreibe.

Leiden, Teil 1 – die Welt
Leiden Teil 2 – das Private – werde ich auslassen, weil es eben zu privat ist und das Leiden am Leiden von Leidenden in meiner Umgebung beschrieben hätte.
Deswegen nur Leiden, Teil 1 – die Welt – einfach damit es einmal gesagt ist…

Stammtischgespräche von Stammtischen, die es nicht mehr gibt und die sich deshalb in Kommentarspalten entladen, lassen mich verstummen. Resignierte und hilflose Bemerkungen, man könne eh nichts machen, machen mich wütend.
Deshalb erhebe ich hier und heute meine Stimme. Ich hoffe, Sie nicht zu langweilen mit Allgemeinplätzen, doch manchmal muss man einfach sagen, was unsäglich ist, und wenn es darunter Allgemeinplätze geben wird, so bitte ich um Nachsicht, denn Allgemeinplätze brauchen Platz, um allgemein zu werden.

Denn nur wenig verwunderlich, leide ich zur Zeit an der Zeit, in der wir unsere Zeit verbringen, verbringen müssen, denn wir haben keine Wahl, sind nun mal in diese Zeit hineingeboren worden, in eine Zeit, die geopolitisch rund um den Erdball bestimmt wird von Männern, deren Zeit eigentlich abgelaufen ist, deren Amtszeit eigentlich beschränkt wäre, deren Lebenszeit hoffentlich bald abgelaufen ist, die aber schon das Wort Beschränkung nicht hinnehmen wollen und deshalb ihre Amtszeiten verlängern: Putin, Trump, Netanyahu, Erdogan, Orban, Xi Jinping – die Liste liesse sich leider verlängern.

Noch lieber möchten all jene ihre Lebenszeit verlängern. Ihre gebotoxten, hylauronübersäuerten Gesichter erzählen die Geschichte davon. Viagragesteuerte Vermehrung, Versicherungen für schockgefrostete Zukunft, atomsichere Bunker und Raketenprogramme zum Mars halten ihre Hoffnung wach, dass sie, die Auserwählten, doch noch dem entgehen, was sie dem Rest der Menschheit bescheren, nämlich Untergang und Verderben.

All die Tyrannen, die zwar auch nur Menschen sind, sich aber über den Rest der Menschheit erheben wollen, indem sie den Rest der Menschheit verwirren, manipulieren und missbrauchen - um was geht es ihnen wirklich?
Dafür muss man nur genug Krimis gelesen haben, dann versteht man deren Welt eigentlich ganz gut. Denn es gibt letztlich nur drei Mordmotive: Gier, Sex oder Vertuschung von einem der beiden. Über Sex reden wir später mal, der passt grad nicht zum heutigen Thema.

Gier steht am Anfang von Machtstreben. Machtstreben ist eine Folge und eine Ausformung von Gier: mehr haben wollen, mehr kriegen wollen, mehr sein wollen. Mehr sein wollen ist Narzissmus. Narzissmus und Macht gehen Hand in Hand. Am Anfang richtet sich Gier auf Gewinn, Gold und Güter. Sind genug Gewinn, Gold und Güter gesammelt, wird Gier geopolitisch und etwas esoterisch: Land, Luft und Liebe.

Zu dumm, dass die Länder alle schon erobert sind, aber man könnte ja ein bisschen Monopoly spielen und Grenzen verschieben und den Mars gibt es zum Glück auch noch zum Erobern und die ganzen Lufträume dazwischen und die Luft, die man zum Überleben braucht und die ewige Liebe, der sich sämtliche Machthaber versichern wollen, ist eh garantiert und gekauft, sobald man genug Macht hat.

Blöd ist, wer nicht nach Macht strebt, doch zurzeit gibt es zu viele von denen, die nach Macht streben, und zu viele bündeln zu viel Macht und wollen zu viel von einem Planeten, dessen Ressourcen beschränkt sind. Männer - bestimmt und getrieben von Macht, Machthunger, Machtfülle, Machterhalt und Machtkämpfen.

Männer, die Macht missbrauchen nicht im Dienste der Menschheit sondern im Dienste ihrer selbst. Und manche Menschen glauben, es sei zu ihrem Wohle, derweil Mensch und Natur ausgebeutet, eingekerkert und enttäuscht werden.
Fragt man diese Männer, so wären sie empört, weil sie selbst glauben, was doch so unglaublich erscheint. Und viele glauben mit ihnen, folgen ihnen, bewundern und verehren sie. Oh, kindliche, ängstliche Gemüter, die ihre Unsicherheit vermeintlich Sicherheit versprechenden mächtigen Männern anvertrauen. Angst ist der schlimmste Antreiber von Abhängigkeit.

Seid mutig, seid aufmüpfig, erhebt Euch, gegen die Abhängigkeit, gegen die Angst. Ich bewundere Euch alle, die Ihr es wagt, Euch zu wehren trotz Repression und Gefahr in Gefängnissen, in Foltergefängnissen oder auf Verschwundenenlisten zu landen.

Bei uns in Europa ist es erstaunlich still, da muss sich – noch - niemand für Leib und Leben wehren, wir können sagen, was wir wollen, werden vielleicht dafür geschnitten und nur noch gelitten, aber nicht eingekerkert. Und gleichwohl sagt kaum einer was, wir verkriechen uns im Alltäglichen und halten uns auf mit Banalitäten, stilisieren Unannehmlichkeiten hoch zu Katastrophen und verzärteln unser verwöhtes Ego.

Manchmal mag ich Menschen nicht mehr, wenn ich im Hotelalltag erlebe, worüber Menschen sich erregen und erzürnen: Das Kissen ist zu weich, die Matratze ist zu hart, das Essen ist zu schwer, der Aufstieg ist zu steil, ich vertrage keine Zwiebeln, keinen Knoblauch, kein Gluten, keine Milch, nichts Süsses, nichts Saures, nichts Bitteres – das ist bitter.

Bitte?! Ist es das, womit Ihr Euch beschäftigt im Anbetracht der Lage der Welt? Rückzug ins Private, Rückzug von der Welt, Rückzug auf das ach so empfindliche Empfinden? Mein Job ist es, all das ernst zu nehmen und darauf einzugehen und Lösungen anzubieten für die grossen Probleme der kleinen Welten. Und vielleicht bewahrt das davor, zynisch zu werden: der Umstand, dass es für solche Banalitäten immer einfache Lösungen gibt und wir diese stets bieten können. Handlungsmacht erlangen, sich selbst ermächtigen. Auch noch freundlich dabei zu bleiben, fällt mir schon schwerer, deswegen werde ich oft still.

Gleichzeitig will ich nicht stumm werden im Anbetracht der Lage der Welt, sondern meine Stimme erheben, mich beklagen, meine Wut zum Ausdruck bringen und nicht resignieren, sondern opponieren. Doch wie?
Die Hoffnungen der 60-er Jahre, die Radikalität der 80-er Jahre, die Unbekümmertheit der 00-Jahre sind dem Defätismus der 20-er Jahre gewichen. Nun stehen wir näher dem Abgrund denn je.

Und das alles nur wegen einiger Männer, die nie genug bekommen können und völlig verblendet sind von dem, was sie als Realität bezeichnen und als einzige Wahrheit wahrnehmen? Manche meinen, wir werden absichtlich getäuscht, was ja sogar noch von einer gewissen Raffinesse und Intelligenz zeugen würde, aber ich glaube nicht, dass sie nicht glauben, was wir glauben sollen.

Sie sind zutiefst davon überzeugt, dass es die Wahrheit ist. Und nichts ist schlimmer als zu glauben, man kenne die Wahrheit. Zu meinen, die Wahrheit zu kennen, ist entweder diabolisch oder naiv – und beides ist ein Irrweg, denn die Welt und das Leben und die Dinge sind nie gut oder böse, nie schwarz oder weiss, nie eindeutig. Und sich dessen bewusst zu sein, das auszuhalten, stets zu zweifeln, stets zu hinterfragen - erst das kommt der Wahrheit etwas näher.

Manchmal tröste ich mich damit, dass die heutigen Machthaber letztlich auch nur eine Randnotiz der Geschichte sein werden und nicht einmal ein Augenzwinkern der Menschheitsgeschichte und dass ihr Schalten und Walten den Planeten auch nicht aus der Bahn wirft, doch während sie schalten und walten richten sie zu viel Unheil an, zu viele leiden ihretwegen. Und über dieses Leiden wollte ich endlich einmal schreiben. Einfach damit ich das mal gesagt habe. Nun können wir uns wieder Erfreulicherem widmen. Ich danke.
 
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