Texte
Die Schleusenfahrt
Karin Bongartz
Am Tag danach sass Klara fassungslos vor dem Gesamtergebnis: 16 Flaschen Wein, 10 Zimmerpflanzen und 14 Bücher.
Eigentlich hatte sie immer wieder betont, dass sie keinen Alkohol trank, die einzige Fensterbank mit Zimmerpflanzen voll besetzt sei und sie Mitglied der Gemeindebibliothek sei, um den letzten freien Platz ihrer winzigen Wohnung vor Büchern zu bewahren.

Gestern hat sie ihren 60. Geburtstag gefeiert. Der Aufruf «Bitte keine Geschenke» war bei vorhergehenden Geburtstagen nicht wirklich berücksichtigt worden. Auf den Rat einer Freundin hatte sie ihr Anliegen in ihrer Einladung diesmal so formuliert: «Wenn jemand meinen Wunsch Bitte keine Geschenke nicht befolgen will, habe ich hier einen Vorschlag: Schenk` mir eine gemeinsame Aktivität (Ausflug, Theater-, Konzert- besuch)»

Und jetzt das! Das war ernüchternd! Doch dann sieht sie einen Umschlag. Ein geheimnisvoller Brief, rosarot mit Goldstreifen und Glitzer.
Sie öffnet ihn. Ein Ausflug mit ihrer Gesangsgruppe. Booh, das hat sie den Damen gar nicht zugetraut! Seit einem Jahr nimmt sie einmal die Woche Gesangsunterricht in einer Gruppe von Frauen bei Elvira Svoboda, einer ausgebildeten Opernsängerin. Diese Frauen haben als einzige von 60 Gästen ihren Wunsch erhört. Sie ist gerührt.

Was sie wohl mit Ausflug meinten?
Am nächsten Dienstag kam des Rätsels Lösung: Gar nichts meinten sie! Sie Klara, das Geburtstagskind, sollte Ideen sammeln, diese auswerten, deren Durchführbarkeit überprüfen, das zugedachte Budget erahnen, alle Informationen beschaffen und der Gruppe einen Konsens fähigen Vorschlag unterbreiten.

Ein Wanderausflug wäre gut, aber unmöglich. Maria hat einen Meniskusschaden und geht an Stöcken, Hannah geht nur mit ihrem Dackel und der geht nach kurzer Zeit aus Gewohnheit immer wieder heimwärts, Renate will lieber Velo fahren, Ruth und Eva wollen sehr zügig wandern und Iris ist Long Distance Runner und denkt unter 25 km gar nicht darüber nach, ihre Laufschuhe anzuziehen.

Ein Konzert wäre gut, aber ausgeschlossen. Die Zwillingsschwestern Maria und Eva hören sich ausschliesslich Barock-Musik an, Ruth nur deutsche Schlager, Renate nur griechische Volksmusik und diese nur gratis angeboten, Iris nur Wave- Musik und Hannah nur Tango.
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Dann kommt Klara der Geistesblitz SCHLEUSENFAHRT.
Folgende Vorteile:                           
• Man hat eine Tagesstruktur, muss sich nicht zusätzliche Sachen überlegen.
• Man legt an der Schifflände ab und nach sechs Stunden wieder an.
• Niemand wird körperlich extrem beansprucht, Iris kann trotzdem Treppen auf und ab laufen und der Hund kann nicht von Bord.
• Es gibt auf dem «Rhystärn» kein Kino, keine Musik und Theaterprogramm, über das man sich streiten konnte.
• Das Angebot läuft von Mai bis September zweimal die Woche, man würde einen gemeinsamen Termin finden.

Sie unterbreitet ihren Vorschlag der Gesangsgruppe beim nächsten Kaffeetreff nach dem Singen im «Jägerstübli».
Maria «Ich weiss` nicht, ob ich die vielen Menschen auf dem Schiff aushalte, kann man die Schleusenfahrt nicht schon bei Kaiseraugst beenden?». Renate, die stolze Besitzerin von zwei Eigenheimen, beide abbezahlt, verbündet sich mit ihr und findet, dass das die Kosten erheblich reduziere.

Das hätte sich Klara denken können. Renate geht nicht nur ausschliesslich an Gratiskonzerte, sondern kommt auch nur jedes zweite Mal zum Singen um unnötige Kosten zu sparen und liefert dem Service-Personal vom «Jägerstübli» jeden Dienstag einen Kampf. Sie findet, sie bestelle grundsätzlich nichts und bekäme nach einem Gasthof-Gesetz aus dem Mittelalter gratis ein Glas Leitungswasser. Auch Ruth fängt an zu mäkeln, das Essen auf dem «Rhystärn» sei höchst wahrscheinlich nicht wirklich gut. Im «Jägerstübli» bemäkelt sie sogar den Tee (zu kurz durchgezogen, zu lang durchgezogen, ohne Gutzi).
Klara enttäuscht «Was ist eigentlich los, wollt ihr euer Geschenk sausen lassen?!»

Eva «Ich werde alles abklären und euch unterbreiten, schliesslich ist es ein Geschenk!»
Eva findet heraus, dass mit Einzelticket jede das Schiff verlassen kann, wann sie will und den dazu passenden Preis bezahlen würde, aber ein Gruppen- Ticket im Vorzugspreis gäbe es nur für eine Gruppe, die zusammen von A-Z fährt, d.h. entweder sieben Einzel- Tickets oder ein Gruppen-Ticket mit derselben Destination.

Hannah «Kann man nicht als Gruppe mit dem Schiff nach Rheinfelden fahren und mit dem Zug zurück?»
Eva klärt auch das ab. Ja könnte man, verkündete sie eine Woche später, aber erstens daure die Fahrt 30 Minuten länger und wäre je nach Abo Situation merklich teurer.
Das überzeugt Renate und Ruth.
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Maria beleidigt «Ich kann ja in Kaiseraugst aussteigen und mit dem 70 Bus allein», wobei sie ihre Schwester Eva drohend anschaut, «nach Hause fahren.»
Eva ignoriert Marias Auftritt und bietet an, die Termine zu koordinieren. Sie meldet sich am nächsten Tag bei allen Gruppenmitgliedern mit einem doodle zur Terminfindung. Sie gibt 34 Termine frei, praktisch alle ihr möglichen Daten. Begeistert gibt Klara auch alle ihr möglichen Termine frei und dann passierte nichts! Klara war fassungslos. Am nächsten Dienstag macht sie sich Luft. Was eigentlich los sei, wieso sich die anderen nicht melden würden. Hannah, Ruth und Renate finden, sie müssten sich doch nicht schon jetzt entscheiden. Eva empört «Wann denn, ich halte doch nicht monatelang 34 Termine frei!» Hannah «Du kannst sie ja wieder besetzen».

Renate ist nicht anwesend, weil wieder der Gesangstreff ist, den sie sowieso
auslässt. Sie meldet sich per Email, sie möchte einen anderen doodle haben, bei dem man nicht die freien Tage angibt, sondern die besetzten. Eva, das käme aufs Gleiche heraus, sie solle doch einfach alle freien angeben, dann wisse man ja Bescheid. Renate «Ich will nicht allen freien Termine angeben, sonst kann ich ja nicht einfach etwas anderes abmachen. Eva «Ja genau in dieser Situation befinden sich jetzt Klara, Hannah, Maria und ich selbst. Deswegen ist es wichtig, sich schnell zu entscheiden.»

Ruth «Ich finde es komisch, dass Klara ihre Termine deckungsgleich mit denen von Eva gemacht hat. Sonst gäbe es vielleicht neue Termine». Klara «Es darf keine neuen Termine geben. Das Ziel vom doodle ist, einen gemeinsamen zu
finden und nicht zwei Spalter-Termine!»
Hannah «Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten das in der Gruppe gemeinsam beschlossen und über die Termine demokratisch abgestimmt.»
Klara, mittlerweile am Ende «So kriegt man maximal einen Mehrheitstermin, aber keinen für Alle».
Iris hat sich bis jetzt gar nicht gemeldet. Auf Anfrage von Eva, sie sei im Funkloch gewesen, aber sonst kompromissbereit.

Klara verschickt eine Gruppenmail an alle und schreibt, dass zwei Termine der 34 vorgeschlagenen immerhin für 4 Leute möglich seien, ob die anderen drei sich bitte vielleicht dem anschliessen könnten. Ja können sie, aber erst mit drei Wochen Verspätung und nach weiteren 10, gefühlten 100 Telefonaten.
Eva kann schliesslich ein Gruppenticket für sieben Personen kaufen. Auf die Frage von Iris, wo denn die dazu passende Tischreservation sei, antwortet Eva, man könne auch ohne Tischreservation an Bord und jede könne sich dann einen Platz selbst suchen. Klara, Hannah und Iris bestehen auf eine Tischreservation für die Gruppe.
Eine weitere Woche später verkündet Eva, sie habe online keine Tischreser-vation zu den schon gekauften Tickets bekommen.

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Iris packt plötzlich der sportliche Ehrgeiz. Sie geht der Sache auf den Grund und findet heraus, dass Eva keine Reservation bekommen hatte, weil sie ohne Essen reservieren wollte. Der geschützte Raum gelte aber als Bord-Restaurant und sei nur mit Essen reservierbar, der Rest des Schiffs sei gar nicht reservierbar, im Sinn von «first come first serve» und man sitze dann irgendwo, bei Regen und starker Sonne auch ungeschützt und nicht unbedingt als Gruppe zusammen.

Sie, Iris habe jetzt eine Gruppenreservation für sieben Personen an einem Tisch im Bordrestaurant erwirkt. Eva, Maria und Renate sind empört. Sie müssten jetzt richtig essen? Iris «Nein, aber vielleicht wenigstens Kaffee, Kuchen oder Glace bestellen. Verdammt noch mal wir planen eine Gruppenausflug. Nach sechs Stunden ist ja jede wieder vollkommen frei, etwas anderes zu machen.»
Klara verschwindet aufs WC. Als sie zurückkommt, hört sie folgendes:

Renate «Wir müssen noch über die Verteilung der Unkosten reden.
Wir haben zwar mal diskutiert, dass jede von uns ein Sechstel von Klaras Ticket und ihr eigenes Ticket zahlen soll, aber Maria und ich sind eigentlich beide mit einer wesentlich kürzeren Fahrt zufrieden und müssen deswegen auch weniger zahlen, nämlich 4 CHF statt 8 CHF für Klaras Ticket. Eigentlich sind wir nun formal demokratisch überstimmt worden.»
Klara verlässt das «Jägerstübli» schweigend.

Drei Tage vor dem Ausflugstermin meldete sich Renate wegen einer nicht genauer definierten Familien-Angelegenheit ab. Renate konnte ihren Anteil von der Personenschifffahrt zurück erkämpfen. Einen Tag später wäre es zu spät gewesen. Offensichtlich hatte sie die AGB der Personenschifffahrt gelesen.

Am grossen Tag trafen sich die restlichen sechs Frauen an der Schifflände, gingen an Bord und konnten kurz darauf einen Sechser-Tisch beziehen.
Die Sonne schien, das Schiff fuhr los, man erzählte sich Anekdoten und kam in Stimmung. Bei der ersten Schleuse gingen alle aufs Aussendeck. Die Novizinnen in punkto Schleusenfahrt mussten zugeben, dass das Erlebnis beeindruckend war.

Wieder zurück am Tisch, kam die Kellnerin mit den Speisekarten. Alle ausser Eva uns Maria fanden schnell etwas Passendes. Die Zwillinge wollten gar nichts bestellen. Iris schaut sie zornig an und machte hinter dem Rücken der Kellnerin eindeutige Zeichen. Schliesslich bestellt Eva eine Kugel Glace und Maria einen Cappuccino.
Plötzlich steht Ingrid im Gang. «Hannah, dass du hier bist, welche Über-raschung!»
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Hannah «Ich bin mit meiner Gesangsgruppe bei Elvira Swoboda auf dieser Fahrt. Als Geburtstagsgeschenk für Klara, du kennst sie ja auch:»
Nach einigem Hin- und Her- Gespräch über dem Mittelgang bietet Ingrid an, ein Gruppenfoto zu machen.
Klara «Halt Stopp! Die Zwillinge sind nicht da. Wir warten noch.» Ohne etwas zu sagen waren Eva und Maria plötzlich verschwunden und kamen auch nicht nach einer WC- Zeitspanne zurück. Das Essen kam, von den Zwillingen immer noch keine Spur.

Hannah «Komm` wir fangen an mit Essen, sonst wird es kalt.» Hannah ist unruhig, verschlingt ihr Essen. «Ich mach` mir Sorgen, vielleicht ist etwas passiert, Herzinfarkt auf dem WC, während wir hier gemütlich essen. Ich geh` nachschauen!»
Ingrid von der anderen Seite des Gangs «Ich komm` mit!»
Die beiden Frauen kommen nach 20 Minuten zurück «Spurlos verschwunden!» Sie hatten alle WCs, alle Seitengänge und das Aussendeck durchsucht.

Die Kellnerin kam mit Evas Glace und Marias Cappuccino. Die Glace schmolz vor sich hin, der Cappuccino wurde mit der Zeit kalt. Langsam haben alle Angst.
Klara steht auf «Ich geh` sie suchen und das Personal fragen».
Iris «Ich komm` mit». Nach drei Kellnerinnen und vier Bordbegleitern haben sie endlich Glück. «Zwillinge um die 60, beide blond, dieselbe Frisur, beide die gleichen blauen Kleider?!a Auf dem obersten Deck, nur erreichbar über die versteckte Seitentreppe».

Eva und Maria sitzen an einem kleinen Tisch und essen gemütlich Couscous mit Feta aus der Tupperware, dazu Berg- Tee, aus der Thermoskanne.
Klara fassungslos «Was soll` das!!!»
Iris «Unten zerläuft die Glace und der Cappuccino ist kalt».
Maria trotzig zu Iris «Du hast uns gezwungen zu bestellen.»
Eva belehrend «Weisst du, wir essen grundsätzlich und ausschliesslich nur Selbstgemachtes, immer und überall auf der Welt.»
 
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