Roland Stark
10. November 2024
Die heutige Lesung startete bereits vor einigen Monaten: Ein«Blind-Date.» Als mich Esther Maag bei einem Treffen ehemaliger Landrats- und Grossrätspräsidenten beim Apéro fragte, ob ich einen Text für die Buchwochen in einem alten Zugwaggon in Bubendorf vortragen würde, sagte ich spontan zu. Bubendorf kannte ich, alles andere war terra incognita. Menue surprise.
Vielleicht hätte ich zuerst Rolf Dobellis neueste Publikation über die «Not-to-do-Liste abwarten sollen, laut Rezension eine Art «Kompendium der Idiotie». Eine Sammlung von Verhalten und Denkmustern, die man tunlichst nicht nachmachen sollte. Im Buch enthalten ist vermutlich auch die Empfehlung, sich vor irgendwelchen Zusagen über die genauen Details und Konsequenzen kundig zu machen.
Vor nicht allzu langer Zeit jedenfalls bekamen die Autoren von Esther das Thema des Aufsatzes zugeschickt: Bucket List. Zur Beruhigung fügte sie noch bei, der Text müsse - Zitat - «im weitesten Sinne etwas mit dem Thema zu tun haben.» Eine offene Formulierung, die sie vermutlich aus unserer Zeit in der Politik übernommen hat.
Vor etwa 55 Jahren, in den späten 1960er, habe ich zum ersten eine Auftragsarbeit geschrieben, dessen Länge und Thema vorbestimmt wurde. Als freier Mitarbeiter der Ostschweizer AZ wurde ich an eine Werbeveranstaltung für einen neuen Trockenrasierer der Firma Braun ins Hotel Hecht in St. Gallen abdelegiert. Honorar konnte mein linkes Leibblatt nicht bezahlen, immerhin bekam ich ein Exemplar des angepriesenen Produkts geschenkt.
Nun also die Bucket List, die Löffelliste. Ein mir völlig unbekannter Begriff. Als Ersatz für das fehlende Frühenglisch habe ich die allwissende Suchmaschine Google bemüht. Wir sollen uns demnach mit der Frage beschäftigen, welche Dinge in unserem Leben noch zu tun sind, bevor wir «den Löffel abgeben». «to kick the bucket». Im Film «Das Beste kommt zum Schluss» widmen sich Jack Nicholson und Morgan Freeman als zwei krebskranke Freunde diesem Thema: Die Pyramiden und den Taj Mahal sehen, auf Grosswildjagd gehen, mit einem Fallschirm abspringen oder den Mount Everest besteigen. Den Film habe ich vor knapp 20 Jahren gesehen, der englische Titel war mir entfallen.
Die naheliegende Frage,ob sich für meine persönliche Bucket List wildfremde Leute interessieren müssen, will ich nicht selbst beantworten. Angesichts des globalen Trends selbst intimiste Geheimnisse über alle möglichen sozialen Medien in Wort und Bild zu verbreiten, darf ich das Experiment allerdings im überschaubaren Rahmen eines Eisenbahnwaggons wohl wagen.
Sie merken, ich nähere mich dem Auftrag auf verschlungenen Pfaden. Nun aber geht es endlich los!
1.
Weit oben auf meiner Liste steht der Wunsch - von vielen in meinem Umfeld geteilt - mich weniger zu ärgern, so berechtigt der Anlass auch sein mag. Also nicht mehr aufregen über Pleiten und Pannen bei Wahlkämpfen, über Gendersternchen, die FCB-Chefetage, gewalttätige Fussballfans, selbsternannte Antifaschisten, überflüssige Kinderbuchempfehlungen des Gleichstellungsbüros, Integrative Schule und Frühfranzösisch, journalistische Fehlleistungen, Parkplatzhysteriker, das Stimmrecht für Affen, Donald Trump, Peter Riebli, grüne Fundamentalistinnen, linke Antisemiten, rechte Rassisten.
Die Aufzählung ist unvollständig, ihre Abarbeitung ihm Alltag würde aber mein Leben, und das einiger Mitmenschen, sicher in ruhigere Bahnen lenken. «Mehr Klappe halten», könnte demnach der erste Eintrag auf der Buckliste lauten. Oder einem Literaturfestival angemessener formuliert im Psalm 141, Vers 3: «Setze Herr, eine Wache an meinen Mund, und eine Wehr vor das Tor meiner Lippen.»
2.
Im zunehmendem Alter verändern sich auch die Lesegewohnheiten. Todesanzeigen gewinnen an Aufmerksamkeit, und, in der Kombination etwas unpassend, die Flut an ganzseitiger Werbung für Fluss- und Kreuzfahrtreisen: Auf Indiens heiligem Fluss, Meisterkoch an Bord, 35 Köchinnen und Köche mit 580 Gault-Millau Punkten und 47 Sternen. 6-Tage Perlen der Donau, Passau – Wien – Budapest – Bratislawa – Wachau – Passau. Flora, Fauna, Kulinarik und Wein im Douro-Tal. Das Angebot ist riesig, in allen Erdteilen und in jeder Preisklasse.
Altersarmut ist bei dieser Kundschaft aber offensichtlich kein Thema.
Sitzt man gemütlich vor der Saint Louis Buvette am St. Johanns-Rheinweg bei Zanderknusperli und Weisswein, lässt sich der hektische Betrieb an Deck eines Ausflusgsschiffes in aller Ruhe verfolgen. Schwimmwesten werden verteilt, der Notfall geübt, Tische und Liegestühle werden bereitgestellt, sogar ein indiskreter Blick auf die Abendgesellschaft im Salon ist möglich. Der Altersdurchschnitt ist hoch, eher über als unter 60. Meine Frau empfiehlt mir, das Projekt einer Schiffsreise -bevorzugt auf der Donau – ernsthaft zu prüfen. Vielleicht hat sie Emile Zola gelesen: «Nichts entwickelt die Intelligenz wie das Reisen», behauptet er. Trotzdem rangiert der Vorschlag bisher eher am hinteren Ende der Bucket List. Auch hier aber stirbt die Hoffnung zuletzt. Das Abenteuer zu Wasser ist ja erst für das «hohe Alter» vorgesehen.
3.
Etwas weiter oben auf der Bucket List findet sich die Anregung, ebenfalls meiner Frau, die «heimelige Stube» vermehrt für Musik und Theater zu verlassen. Meine Prioritäten lagen jahrzehntelang woanders: In der Politik, beim Schreiben und Lesen. Beim Engagement in Partei und Parlament, Verfassen von Kolumnen, Buchbesprechungen, Kommentaren und Gastbeiträgen, Lektüre von unzähligen Büchern fast jeder Art und von Zeitungen aus den unterschiedlichsten ideologischen Himmelsrichtungen. Stubenhocker haben generell einen schlechten Ruf, das Bedürfnis nach unbeschwerter Stille ist verdächtig. «Das ganze Unglück der Menschen rührt aus einem einzigen Umstand», meinte im Gegensatz dazu Blaise Pascal, «nämlich, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer sitzen bleiben können.»
Der Vorsatz auf der Bucket List müsste also heissen: Häufiger Theatervorstellungen und Konzerte besuchen. Immerhin habe ich das Klavierkonzert von Lang Lang im KKL Luzern und Friedrich Dürrenmatts «Physiker» im Theater Basel sehr genossen, so dass bei diesem Ziel eine realistische Hoffnung auf Verwirklichung besteht. Noch besser würden die Chancen stehen, wenn das Theater Basel seinen Drang zügeln könnte, die Schauspiel-Aufführungen mit überflüssigem Firlefanz aufzupeppen und ihre aufrüttelnde Wirkung dadurch zu beschädigen. Brecht’s Dreigroschenoper lässt grüssen.
4.
Auf der Bucket List nimmt schliesslich ein Wunsch einen Spitzenplatz ein, dessen Erfüllung nicht in meiner Macht steht: Einmal mit meinen Enkelkindern die Herbstmesse oder den Zolli besuchen, einen Drachen steigen lassen, ein Lagerfeuer anzünden, Büchlein vorlesen, Puzzle zusammensetzen. Oder einfach den Kinderwagen ins Tram schieben. Damit immerhin habe ich schon leidvolle Erfahrungen gesammelt. Häufig wurde ich angesprochen, eher angeschnauzt, wenn ich den sperrigen Doppelkinderwagen mit Hannah und Meret ins Tram oder in den Bus befördern wollte. «Schon wieder ein Opa, der nicht weiss, wie man mit einem Kinderwagen umgeht», tönte es mir regelmässig, hier in der jugendfreien Variante zitiert, entgegen.
Angesichts der unabänderlichen biologischen Umstände rede ich natürlich eher von einem Traum als von einem realistischen Szenario.
Aber: «Einmal im Leben, zur rechten Zeit», schreibt treffend Christa Wolf, «sollte man an etwas Unmögliches geglaubt haben.»
Die Vorbereitungen auf diese Zeit wären einfach. In den Buchhandlungen liegt dazu ein hilfreiches Buch auf: Bucket List für Opa. 30 Ideen werden angeboten, von spontanen Aktionen über kleine Abenteuer, bis hin zu ausgefallenen Erlebnissen. Beziehungen werden vertieft, Vertrauen gefördert und wertvolle, gemeinsame Erinnerungen geschaffen. So der blumig formulierte Werbetext. Es bleibt die Frage unbeantwortet, wie die Grosseltern meiner Töchter all diese hohen Ansprüche trotz fehlender Ratgeberliteratur so hervorragend bewältigen können.
5.
Ein Reiseziel darf auf meiner Bucket List nicht fehlen. Noch einmal nach San Francisco, das ist die wohl unerfüllt bleibende Vision. Nach Jahrzehnten Pause ist Michael Tolliver wieder auf der literarischen Bühne erschienen. Armistead Maupins Held aus sechs Bänden «Stadtgeschichten». Die Geschichten erschienen jahrelang als täglicher Fortsetzungsroman im San Francisco Cronicle und begleiteten mich bereits zweimal in die wunderschöne Stadt, die heute allerdings vor allem durch die hohe Kriminalitätsrate berüchtigt ist.
Das Programm aus den 1990er Jahren würde ich kaum ändern. Eine Fahrt mit dem Velo von der Fisherman’s Wharf über die Golden Gate Bridge nach Sausalito. Fischsuppe und Sauvignon blanc inklusive Blick über die Bucht vor San Francisco. Die tägliche Fahrt mit den Cable Cars, ein Besuch auf der Gefängnisinsel Alcatraz, ein Ausflug zum Muir Woods National Monument und natürlich eine Weintour durch das Napa Valley. Pflicht wäre auch der Besuch eines Football-Spiels der legendären 49ers-. Und nicht zu vergessen: das San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA) des Schweizer Architekten Mario Botta.
Die Rückreise aber dürfte sich wieder ähnlich luxuriös abspielen. Ein spendierter Buisnessflug über New York nach Zürich als «Entschädigung» dafür, dass ich morgens früh den geplanten Flug wegen Überbuchung nicht antreten konnte. Dafür war ich dann ein paar Minuten früher als geplant in Zürich, gut genährt aus einer umfangreichen Speise- und Weinkarte, aufmerksam bedient von einer Schar Kellnerinnen und Kellner.
6.
Das Schreiben einer Bucket List ist eine mühselige, aber auch eine wertvolle Beschäftigung. Man kann über über sein eigenes Denken und Handeln sinnieren, über Versäumnisse der Vergangenheit und Perspektiven für die Zukunft. Die Schlussfolgerung: Erweitern, nicht verengen öffnen, nicht verschliessen. Bertolt Brecht hat es in seinen Geschichten für Herrn Keuner unübertroffen gut ausgedrückt:
«Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüsste ihn mit den Worten: «Sie haben sich gar nicht verändert.» «Oh!», sagte Herr K. und erbleichte.