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Café Orient
WfW vom 21. April 2024: TAG und NACHT
Deny Lanz
Leben im Plattenbau

Hochhäuser, gefangen im Nebel, versprühen
ein Feeling von Geisterstadt.
Ich schau hinaus vom 150. Stock
und möchte schwimmen im weissen Meer.
Doch es bleibt keine Zeit.
Muss mich beeilen zum Kaffee mit Regina im 189. Stock.
Dann gleich zum Brunch mit Nelly vom 120. Stock und
schleunigst ab zu Heidis Nackenmassage in den 81. Stock.
Und schliesslich ist Zeit zum Mittagessen
bei Eva im 154. Stock.
Nachmittags ein ausgedehntes Nickerchen
bei Babsi im 11. Stock und manchmal auch
an der Seite von Eva im 66. Stock.
Dann gehe ich spazieren, hin und wieder zur Post.
Nachts kippe ich ein paar Dosen Bier und bringe
meine Ideen zu Papier.
Mein Beruf ist Artist. Hier in der Mietskaserne bin ich
der schönste Mann, im ganzen Haus begehrt,
immer hilfsbereit und stramm.


Das Zirkusspektakel

Der Zirkus Gumberto gastierte in Prag und ich bekam vom Wochenblatt den Auftrag, einen Artikel samt Bild über die Premiere zu machen. So atmete ich wieder einmal Zirkusluft ein und sah mit eigenen Augen, wie ein Gorilla auf einer Elefantenkuh ritt und wie ein Zauberer einen Mann, der als Putin verkleidet war, in einer Kiste zersägte und dann wieder zusammensetzte.
Dann erschrak ich, als die Primaballerina auf dem Seil eine Biellmann-Pirouette drehte und dabei beinah das Gleichgewicht verlor. Im letzten Moment konnte sie sich noch mit beiden Händen am Seil festhalten. Meine Sitznachbarin schrie dermassen laut und ätzend hoch, dass ich fast einen Hörsturz bekam. Ein lustiger Clown machte seine Spässe und ich hatte ein paar gute Bilder im Kasten.

Dann kam der Knaller: Obwohl man ja deutlich sah, dass ich Reporter war und eine Kamera um den Hals trug, konnte es sich der Messerwerfer wohl nicht verkneifen, ausgerechnet mich in die Manege zu holen. Dies geschah direkt nach der Pause und ich hatte schon ein paar Gläser Wein intus. Nach meinem geglückten Misstritt in die Manege wurde es heiter im Publikum und ich steckte mit dem Gesicht im Sägemehl. Es roch nach Pferdescheisse. Zu meinem Erstaunen schmeckte es gar nicht so übel, nur vielleicht ein bisschen zu trocken. Ein kühles Bier fehlte dazu. Beim Aufstehen rutschte mir das Sägemehl mit dem Pferdemist ins Hemd. Ein unangenehmes, pikendes Gefühl, das mich an den alten Wollkragenpullover erinnerte, den ich einst von meiner Mutter bekommen hatte. „Ein schönes Weihnachtsgeschenk für dich!“, wie sie es damals nannte. Ich hatte ihn später in einem Osterfeuer verbrannt. Jetzt kam dieses kratzige Gefühl wieder hoch. Der Messerwerfer fragte mich, ob alles gut sei … Ich nickte kurz und entschlossen und wurde sofort aufgefordert, mich an ein rundes Brett zu stellen. Dort fesselte man mich an Händen und Füssen. Dann begann sich das Rad langsam zu drehen – und immer ein bisschen schneller … Trommelwirbel waren zu hören. Spannung im Publikum! Vom Sägemehl am Rücken spürte ich überhaupt nichts mehr. Dafür begann sich mein Magen mitzudrehen. Verschwommen sah ich, wie das Arschloch von einem Messerwerfer ein scharfes Beil anzündete und das brennende Ding direkt auf mich richtete. „Ich werde diesen Idioten verklagen“, dachte ich mir noch. Er zielte und zielte und das Rad drehte und drehte sich schneller und schneller. In diesem Moment explodierte mein Magen und ich kotzte ihm aus fünf Metern Entfernung eine volle Ladung Mittagessen und Sägemehl ins Gesicht. Er liess seine Waffe zu Boden fallen und ich wurde von zwei rumänischen Zirkusmitarbeitern befreit. „Beim nächsten Mal landest du im Knast!“, raunte ich ihm noch zu. Nach ein paar Griffen daneben erwischte ich die Kamera, verbeugte mich auf etwas unsicheren Beinen vor dem Publikum und verschwand durch den Vorhang.


Café Orient

Direkt unter meinem Schlafzimmer, im Erdgeschoss, befindet sich das Café Orient.
Der Name hält nicht, was er verspricht, denn im Prinzip ist es ein gewöhnlicher orientalischer Schnellimbiss. Etwas abwertend gesagt: eine schmierige Dönerbude mit allem, was sie zu bieten hat. Tag und Nacht riecht es bei uns nach gegrilltem Hühnerfleisch und man hat das Feeling, neben einer Zwiebelrösterei zu wohnen. Der Duft nach Zwiebeln, Knoblauch und südländischen Gewürzen hängt förmlich in der Luft und gehört zum Mittelpunkt meines Alltags hier in Prag. Dafür ist die Miete günstig.
„Alles kannst du nicht haben, Franz!“, sagt Jiří, der Schuhmacher, immer zu mir.
Der Geschmack des Südens kommt oft unangemeldet und nicht überraschend: still und heimlich klettert er die Wände hoch, schleicht sich durch Ritzen, Fenster und Kamine. Er gesellt sich zu mir in die Küche, an die Schreibmaschine und sogar ins Bett. Manchmal habe ich das Gefühl, meine Matratze hängt am Dönerspiess.

Mich selber stört es nicht mehr, wenn die Hemden nach Döner riechen. Man gewöhnt sich an vieles. Und ab und zu hole ich mir auch einen Kebab und muss sagen: Das Zeug schmeckt verdammt gut! Manchmal trinke ich am Morgen einen stark gebrühten schwarzen Tee im Café Orient und lese die Blesk, die Boulevardzeitung. Meist nach einer durchzechten Nacht.
Wenn ich wollte, könnte ich eine Menge Vorteile aufzählen, die ein Dönerladen mit sich bringt, wenn man ihn direkt unter sich hat. Und die türkische Familie ist sehr nett, auch wenn es heisst, der Sohn sei ein Schläger. Ausserdem bin ich schnell mit Dosenbier eingedeckt, wenn in der Nacht ein Reißen kommt und der Alkohol ausgeht. Am Wochenende haben die Türken sogar bis zwei Uhr geöffnet. Das ist gut für mich. Nur wenn sich Damenbesuch ankündigt, wird es heikel. Der Geruch nach Fett und Imbissbude ist nicht unbedingt das, worauf die Ladys abfahren. Da kann ich selbst mit Orangensaft zum Frühstück und einem Eierkocher nichts mehr retten. Stundenlanges Lüften und Räucherstäbchen haben versagt. Ich habe alles versucht, doch der Geruch nach Dönerbude bleibt für immer in den Wänden drin. Wen also wundert’s, dass ich Single geblieben bin?


Aida

Der Kiosk an der Bethlehemstraße hat den siffigen Charme und die Ausstrahlung eines öffentlichen WCs auf einem französischen Campingplatz: äusserlich eine alte, kaputte Fassade, die nach Abbruch stinkt. Das Sortiment, in gewohnter Manier, besteht aus Zeitungen, Zeitschriften und Zigaretten, aus Süsswaren, Gummifröschen und Lakritze, verschiedenen Schokoladensorten sowie Eis am Stiel und Cornetto aus dem Tiefkühler. Es gibt Cola und andere Softdrinks, Bier und Kaffee. Ausserdem ist der Laden eine beliebte Annahmestelle für Lotto, Toto, EuroMillions und andere Gewinnspiele. Der Grossteil aber, jedenfalls der männlichen Kundschaft, kommt wegen der neuen Verkäuferin. Aida heisst sie und kommt aus Kolumbien. Gerade mal fünf Jahre in der Schweiz, spricht sie schon ein ausgesprochen gutes Deutsch. Sie hat vor einigen Wochen hier angefangen und seitdem läuft das Geschäft wie geschmiert. Die Kunden kommen gerne zu ihr und stehen Schlange draußen vor der Tür. Die Wartezeit am Freitagabend wird immer länger. Aida fängt mittags an, ist bis 18 Uhr im Kiosk und putzt abends Büros. Eine solche Frau hat man hier im Stadtteil noch nie gesehen. Wie Diamanten funkeln ihre Augen, die jedem Mann sofort zuwinken und ihn umarmen, sobald er von Aidas Blick erfasst wird.

Es dauert nicht lange und Aida bekommt jede Woche einen Postsack voll von Liebesbriefen, Verlobungs- und Heiratsanträgen sowie Einladungen zum Brunch, Bankett, zum Lunch, zum Golf, zum Dinnerabend, ins Kino, in den Zirkus, zum Rolling-Stones-Konzert, zum Oster- und Weihnachtsfest, zur Geburtstagsfeier, zum 1.-August-Feuer, ins Schwimmbad, auf einen Spaziergang, in die Ferien, die Disko und zum Eisessen. Wen wundert’s, dass die Ärmste nach zwölf Monaten völlig erschöpft, mit den Kräften am Ende ist, klammheimlich kündigt und wieder verschwindet? Sie hat nämlich schon einen Mann, einen Fernfahrer, sie fährt mit ihm davon, taucht unter in einem andern Kanton. Hartnäckige Typen forschen vergebens, suchen sie in allen Ecken, an allen Kiosken von Bern, im Internet und sogar in Lausanne und St. Gallen. Doch Aida ist spurlos verschwunden, einfach fort. Seitdem steckt der Kiosk in der Krise und der Lack am Sperrholz blättert ab. Die Schulden werden grösser – der Diamant des Ladens ist fort.


Tag eines Schriftstellers

Wenn er aufwacht, ist der Tag schon halb um.
Er nennt die Zeit Morgen.
Die Baustelle, draussen vor dem Haus, kann ihm
den Schlaf nicht rauben.
Bis er auf den Beinen steht, vergehen zwei Stunden.
Es ist 14.00 Uhr. Nach drei doppelten Espressi
die Morgengymnastik.
Leere Bierflaschen müssen weg.
Dann redigiert er die Texte der letzten Nacht, geht
spazieren, macht Einkäufe,
das Abendessen gibt’s um acht.
Dann legt er sich hin, nennt es Mittagsschläfchen.
Um 22 Uhr das erste Bier. Er setzt sich an die
Schreibmaschine und tippt.
Wieder eine Nachtschicht bis morgens um vier.

Deny Lanz aus seinen Buch-Veröffentlichungen "Die Sliwowitz-Mama" (2021) und "Schöner blauer Nachmittag" (2023) - erschienen im Verlag "container press": www.containerpress.de
 
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