Thomas Brunnschweiler
09. November 2025
Als Robert sich viel später an jenes denkwürdige Familienfest in der Blätterkathedrale der Hängebuche im Garten seines Elternhauses erinnerte, lag ein schaler Geschmack auf seiner Zunge. Ihm kam der Satz in den Sinn, mit dem Tolstois Roman «Anna Karenina» beginnt: «Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; unglücklich ist jede Familie auf ihre eigene Art.»
Es war ein heisser Sommertag im Juli gewesen. Robert war acht und für ein Kind auf dem Lande noch recht schüchtern. Bei schönem Wetter wurde der sogenannte schwarze Kaffee immer unter der Laubkuppel der riesigen Trauerbuche hinter dem Haus zelebriert. Es war hier bei hohen Temperaturen kühler als an anderen Schattenplätzen im Garten. Robert genoss diese Familienfeste, weil Lilly, die Badische Köchin des Hauses, jeweils eine Linzer- und eine Sachertorte buk und mit einer Ananastorte à la Gisela ergänzte, die aus Buttercrème, Löffelbiskuits und Schlagsahne bestand.
«Magst du ein Stück Linzertorte?», fragte Magda Robert. Die etwas ältere, seit langem depressive Schwester von Roberts Vater Albrecht, schaute ihn freundlich an. Roberts Mutter Vivienne, die man Vivi nannte, war zwanzig Jahre jünger als ihr fünfzig Jahre alter Mann, attraktiv und in jeder Gesellschaft der unbestrittene Mittelpunkt. Neben Magda, die wieder ein verkniffenes Gesicht machte, sassen Raoul und seine Frau Gundula, die alle nur Gundi nannten.
Robert mochte den älteren Bruder seines Vaters nicht besonders. Er war auf eine unerträgliche Weise bigott und versuchte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, die angeblich ungläubigen Familienmitglieder mit einer Predigt zu bekehren, besonders seinen Bruder Albrecht, der sich als Agnostiker bezeichnete. Die Konversionsversuche waren allen stets äusserst peinlich. Tante Gundi lächelte dann nur milde und duldsam in die Runde.
Neben ihr sass Albrecht, ein jovialer, Musik liebender und lebenslustiger Allgemeinpraktiker. Er genoss es, mit Vivi eine gutaussehende Frau an seiner Seite zu haben. Albrecht war mit Judith ins Gespräch vertieft, die wiederum neben ihrem Gatten Meinrad sass, der zusammen mit Roberts Cousin Edgar ein gutgehendes Geschäft führte. Meinrad, dem Sohn von Raoul, sagte man nach, er habe in seinen jungen Jahren ein ebenso ausschweifendes Leben geführt wie sein Vater. Er und Judith waren ebenfalls in einem evangelikalen Sinne fromm, wenn auch nicht so penetrant und missionarisch wie Raoul. In einer Zeitschrift eines Vereins christlicher Kaufleute präsentierten sich Meinrad und Judith gerne als die ideale Vorzeigefamilie und Beispiel einer perfekten christlichen Ehe.
Neben Meinrad sassen Anna und ihr Mann Edgar, ebenfalls ein viel älterer Cousin von Robert, der hin und wieder aufgrund psychischer Probleme «interniert» war, wie es hiess und was Robert nicht verstand. Vivi meinte nur, Edgar sei eben schizophren, denn sie hatte von psychischen Krankheitsbildern so viel Ahnung wie eine Kuh von Algebra. Erst später, nach dem verdeckten Suizid seines Cousins, erfuhr Robert, dass Edgar an einer bipolaren Störung gelitten hatte.
Neben Edgar sass Roberts Lieblingstante Elfriede, die man Elfi nannte. Sie war mit Vivienne im Gespräch. Elfi wohnte im gegenüberliegenden Kontorhaus und stellte sich alljährlich am sechsten Dezember für Robert als Nikolaus zur Verfügung. Abwechslungsweise unterhielt sich Vivi auch mit Onkel John aus Kapstadt, der einmal im Jahr für drei Wochen in die Schweiz reiste.
«Weisst du», erklärte er im Brustton der Überzeugung, «diese linke Propaganda in der Schweiz, die unseren Staat als Apartheid-Regime verunglimpft, ist total haltlos. Ich behandle meine Bimbos auf der Farm gut, besser hätten sie es nirgendwo.» Robert verstand weder das Wort «Apartheid» noch den Begriff «Bimbo», wie ihm vieles am nachmittäglichen Familientisch in der Baumkathedrale unerklärlich blieb.
Raoul, der Vivienne schräg gegenübersass, fragte sie: «Vivi, sag mal, du heisst doch mit zweitem Vornamen Lea und dein Ledigenname ist Tannenbaum. Stammst du aus einer jüdischen Familie.»
Plötzlich verstummte das Gespräch am Tisch. Alle schauten auf Vivienne. Sie sah ihren neugierigen Schwager spöttisch an und sagte spitz:
«Wir Tannenbaums sind seit fünfhundert Jahren evangelisch und arisch, wenn du es genau wissen willst, lieber Raoul.»
Albrecht begann zu lachen. Die anderen fielen ins Gelächter ein. Der Bann war gebrochen. Aber Robert verstand nicht, was mit «jüdisch» gemeint war. Offenbar etwas, was in einem Gespräch bei allen Unbehagen erzeugte. Er schaufelte sich ein Stück Gisela-Torte auf seinen Teller, deren Löffelbiskuits mit Rum getränkt waren. Für ihn war es das dritte Tortenstück an diesem Nachmittag.
Edgar, der sich gerade in einer euphorischen Phase befand, erzählte einen etwas grenzwertigen Witz über einen gehörnten Ehemann. Albrecht und Meinrad lachten, Raoul verzog angewidert das Gesicht, und Anna blickte ihren Ehemann böse an. «Edgar, benimm dich», zischte sie.
Von draussen, also von jenseits des Blättervorhangs, hörte man das Schreien und Lachen der spielenden Kinder von Roberts älteren Cousins. John erzählte jetzt in den schillerndsten Farben seine Lebensgeschichte, von seiner Heirat mit einer ungarischen Baronin, seiner abenteuerlichen Flucht vor den Deutschen im Zweiten Weltkrieg, seine wundersame Aufnahme durch Benediktinermönche und seine Hinwendung zum katholischen Glauben.«Die Kirche ist seit dem Zweiten Vaticanum vom echten Glauben abgefallen», salbaderte er, «nur Erzbischof Lefèvre und seine Kongregation vertreten noch den lateinischen Ritus und die wahre katholische Kirche.»
Raoul räusperte sich vernehmlich. Nur Tante Elfi sah bewundernd zu John hinüber, da sie für alles, was nach Mysterium tönte, anfällig war. Robert verstand wieder nur Bahnhof. Er mochte seinen Onkel John. Da stand Meinrad auf und gab zu verstehen, er gehe jetzt nach Hause, um für die Männer am Tisch einige Havanna-Cigarren zu holen.
Nachdem er sich entfernt hatte, teilte Vivienne mit, sie müsse sich kurz frisch machen, es sei doch ein recht heisser Tag.
«Wo ist eigentlich Lilly», fragte Judith Vivi. «Sie ist in der Zimmerstunde», entgegnete Vivienne und verliess die Laubkathedrale.
Durch das hohe Blätterdach flirrten vereinzelte Sonnenstrahlen. Insekten flogen herum und landeten auf den Kuchen wie ungebetene Gäste ohne Tischmanieren. Der Kaffee duftete. Robert hatte mehr davon getrunken als sonst. Er verspürte einen unangenehmen Druck auf der Blase. Auch er erhob sich und begab sich ins Haus. Auf die Gästetoilette im Parterre mochte er nicht gehen, so eilte er die Treppe hinauf und suchte das Familienklo auf dem Flur auf. Als er es verlassen hatte, hört er seltsame Geräusche.
Lilly war ja in ihrer Kammer auf dem Dachboden, seine Mutter musste im Bad sein. Er schlich sich auf den Flur bis vor das Elternschlafzimmer, aus dem die Geräusche kamen. Er vernahm die Stimme seiner Mutter, die abwechslungsweise kicherte, lachte, keckerte, seufzte, schrie und quiekte. Und Robert hörte ein Knarren, wie es entstand, wenn er auf seinem Bett herumhopste. Dann hörte er eine männliche Stimme. «Bist verdammt heiss heute», seufzte sie erregt, «komm, komm, mach weiter».
Er erkannte sofort den Tonfall seines Cousins Meinrad. Die Stimme verstummte, und Robert vernahm nur noch ein rhythmisches Stöhnen. Was war das für ein Spiel, das die beiden hinter der verschlossenen Tür spielten? Er hatte jäh das Gefühl, Zeuge von etwas zu sein, das ihn nichts anging, aber er hatte keine Ahnung, was die beiden im Schlafzimmer machten. Meinrad holte doch Cigarren, und seine Mutter wollte sich frisch machen.
Warum waren jetzt beide in diesem Zimmer? Robert schlich verstört zur Treppe und rannte zurück zum sonntäglichen Familienfest. Er setzte sich auf seinen Platz. Ihm kam es vor, als drängten nur noch einzelne Gesprächsfetzen wie durch Watte an seine Ohren. Er fühlte sich gleichermassen verwirrt und schuldig. Hatte er etwas gehört, was er nicht hätte hören dürfen? Unverständlich drang die Stimme von Tante Magda ans linke Ohr des abwesend dasitzenden Jungen. In diesem Augenblick tauchte seine Mutter auf, strahlend und mit frisch aufgetragenem Wangenrouge. Robert vermochte nicht, sie anzublicken. Kurze Zeit danach erschien Meinrad und angelte elegant einige Cigarren aus der Innentasche seines Leinensakkos.
«Jetzt wird erstmal gepafft, und wir gönnen uns einen Cognac», sagt er leutselig und überreicht Roberts Vater die erste Havanna. Auch Raoul, Edgar und John entzündeten sich eine Cigarre, nachdem Meinrad diese fachmännisch angeschnitten hatte. Albrecht prostete mit seinem Cognacglas lächelnd Vivienne zu. In diesem Moment spürte Robert, wie es in seinem Bauch rumorte. Die drei Tortenstücke waren nach dem sowieso schon üppigen Mittagessen zu viel gewesen. Ihm wurde schlecht und schwindlig. Er rannte zum mächtigen Stamm der Buche und übergab sich. Seine Mutter blieb sitzen und warf ihm einen mitleidlosen Blick zu. Nur Judith, Meinrads Frau, hatte ein Einsehen mit dem Jungen und begleitete ihn ins Haus. «Leg dich hin, ich mach dir einen Tee», sagte die blasse Frau fürsorglich, «dann wird es dir bald besser gehen.»
Etwas später erschien sein Vater in Roberts Zimmer und tastete seinen Bauch ab.
«Du hast dich wohl überessen. Das wird wieder», tröstete er sein einziges Kind.
Am nächsten Tag hatte Robert die Einzelheiten des Familienfestes bereits verdrängt. Dabei blieb es, bis er in der Pubertät in einem Fernsehfilm eine harmlose erotische Szene sah, die ihm schlagartig das Familienfest vor sieben Jahren wieder in Erinnerung rief. Er war sich jetzt sicher, dass seine Mutter ihren Mann mit seinem Cousin betrogen hatte. War dies ein einmaliger Ausrutscher gewesen oder eine Affäre, die noch andauerte? Waren sein Vater und seine Mutter überhaupt ein glückliches Ehepaar? Waren sie es je gewesen? Robert überlegte sich, seine Mutter auf den Vorfall anzusprechen. Aber wie er sie kannte, würde sie alles abstreiten und den angeblichen Ehebruch als Ausgeburt von Roberts schmutziger Phantasie abtun. So blieb Robert auch nach dem Tod seiner Mutter im Ungewissen darüber, welches Leben seine Mutter und seine Verwandten überhaupt geführt hatten.