Texte
Das Gebrüder
Martin Streckeisen
Ich schrie auf vor Wut und Schmerz. Soeben hatte mich mein Bruder brutal an die Steinmauer gestossen und war dann feige zu Mutter gerannt. Und das nur, weil ich ihm einen Holzstock über den Kopf schlagen wollte. Das gehörte ja zu unserem Spiel, hier in der hintersten Kammer unseres alten Kellers, wo wir die Geschichte von Kain und Abel nachspielten.

Der Abel wurde ja bekanntlich vom damaligen Gott bevorzugt behandelt, der Kain hingegen ohne Grund grausam vernachlässigt. So stand es jedenfalls in der Bibel, aus der uns die Mutter jeden Abend vorlas. - Ein komischer Gott, dachte ich, aber egal, die Bibel gefiel mir, vor allem die Mordgeschichten darin, und den Kain fand ich super, schon in meinem zarten Alter von sieben Jahren. Ich wollte immer den Kain spielen, der langweilige Abel passte besser zu meinem doofen älteren Bruder.

Als ich mich aufgerappelt hatte und nun meinerseits aus dem Keller zu Mutter rannte, um mich trösten zu lassen, da thronte mein Bruder mit kecker Miene auf ihrem Arm, und mir wurde streng verboten, weiterhin den bösen Kain zu spielen. Ich hasste meinen Bruder für seine Petzerei, und anderntags, als wir am Brunnen vor der Kirche Johannes den Täufer spielten, da versuchte ich ihn zu ertränken, aber leider war er stärker als ich.

Wir lebten zu dritt in dem alten Taunerhaus im Emmental, wo die Kirche damals, in den gottgefälligen Fünfziger Jahren, noch mitten im Dorfe stand. Meinen Vater hatte ich nie kennen gelernt, der hatte sich kurz nach meiner Geburt aus dem Staub gemacht, in Brasilien irgendeinen Handel aufgezogen und meiner Mutter regelmässig Geld geschickt. Vor kurzem war er offenbar gestorben. - Er sei jetzt nicht mehr bei uns, sagte die Mutter.
  
   Das sei er doch bisher auch nicht gewesen, maulte ich, aber davon wollte Mutter nichts wissen, und mein neunmalkluger Bruder meinte, davon verstünde ich kleiner Esel eben noch nichts.

Eben hat übrigens mein Bruder, angekündigt durch das Rasseln des Schlüsselbundes und das Aufschnappen des schweren Vorhängeschlosses, seinen spärlich behaarten Schädel durch die Türöffnung gestreckt. Er geht mittlerweile gegen die Fünfzig. - Wann ich denn endlich fertig sei mit meiner Schreiberei. Er gebe mir noch eine Stunde Zeit, unserer seligen Mutter zuliebe.

In Anbetracht der begrenzten Zeit, die mir bleibt, wage ich nun einen Sprung durch die Jahre. Unsere brüderliche Rivalität eskalierte nachhaltig, und die allein erziehende, zunehmend überforderte Mutter nahm meist Partei für meinen Bruder. Die Zwietracht gipfelte darin, dass mein Bruder um ein Haar im Güllenloch des Nachbarn ersoff. Hier zeigten sich sehr schön unsere verschiedenen Charaktere: Ich hatte der Mutter erzählt, mein Bruder sei unter den Traktor des Nachbarn geraten und leider gestorben, worauf dieser sehr lebendige Bruder in heiligem Zorn mit der Mistgabel auf mich losstürmte. In weiser Voraussicht hatte ich jedoch ein Brett über dem Güllenloch gelockert und mich dahinter aufgestellt, worauf er mitsamt der Mistgabel in der Gülle landete.

Mit aschfahlem Gesicht erklärte uns die Mutter beim Abendessen, sie ertrage das nicht mehr, sie werde auf den Nachlass unseres seligen Vater zurückgreifen und uns damit zwei Plätze in getrennten evangelischen Internaten sichern.
Oh nein, rief mein Bruder und begann zu weinen.
Oh doch, rief ich, endlich bin ich dich los.
Er wollte mich packen, aber Mutter trat dazwischen. Was sie nur falsch gemacht habe mit uns? Warum Gott sie derart strafe? Ob wir sie ins Grab bringen wollten? Dabei sah sie mich an.

Mein Bruder brachte bald ausgezeichnete schulische Leistungen aus dem Internat nach Hause, während ich als Anführer von kreativen Streichen bei den Mitschülern punktete. Die Berichte des Schulleiters über mein Verhalten erschütterten meine Mutter derart, dass sie jegliche Hoffnung aufgab und früh ergraute. Umso mehr schloss sie meinen Bruder ins Herz.

Nachdem ich kurz vor meinem Abschluss in Schande vom Internat geflogen war, bestellte mich die Mutter zu einer Aussprache.

Ich sei, meinte sie düster, fortan für mein Wohl selbst verantwortlich. Sie überschreibe mir einen Teil des ererbten Vermögens unter der Bedingung, dass ich mich zu Hause nicht mehr blicken liesse.

Das sei mir recht, erwiderte ich trotzig, ich wisse wohl, dass sie meinen Bruder mehr liebe als mich, dass sie mich als missraten, als schwarzes Schaf und Teufelsjünger empfinde.

Meiner Mutter kamen die Tränen, aber sie schwieg. Ich hatte also recht. In ihrer lokalen Sekte, genannt Gottes weisse Lämmer, kursierten genau solche Ideen.

Tatsächlich fiel es mir aber leicht, in den Handel einzuwilligen, zumal ich dadurch meinem Bruder aus dem Wege gehen konnte, der mir immer unerträglicher wurde. Der Kerl trieb fleissig Sport, verkehrte mittlerweile in Studentenverbindungen und tat sich dort als Degenfechter hervor. Als Degenfechter, der verfluchte Streber! Die gesellschaftlich-politischen Umwälzungen der späten Sechziger gingen spurlos an ihm vorüber, und es wurde ihm eine glänzende berufliche Laufbahn prophezeit.

Ich selbst verbrachte die nächsten Jahre in London, wo ich in den Swinging Sixties mein kleines Erbteil durchbrachte, mich danach als Musikagent versuchte und es darin zu einer gewissen Prosperität brachte. Der Geschäftsgeist meines Vaters machte sich bemerkbar, aber auch sein Leichtsinn, und nach 25 Jahren ging ich bankrott. Ich beschloss, zurückzufahren in die heimatlichen Hügel. Was mich dort erwartete, wusste ich nicht, denn ich hatte seit Langem jeglichen familiären Kontakt verloren.
Im Emmental angekommen - es war ein heisser Frühsommer, es blühte und summte und wimmelte von Kühen – da vernahm ich, dass meine Mutter im Sterben lag. Ich war also zur rechten Zeit gekommen. Nach den Begräbniszeremonien, an denen das halbe Dorf Näher mein Gott zu dir sang, hatten wir zwei Brüder noch auf dem Gottesacker eine Aussprache.

Nun seien wir also ein Zweierteam, brummte mein Bruder. Ich nickte und gab ihm die Hand. - Natürlich aber sah ich das ganz anders: er war immer mein Rivale gewesen, und ich hatte nicht vor, daran etwas zu ändern, zumal jetzt, wo eine Erbteilung anstand.

Seine Geschäfte liefen mässig, gestand er mir, er sei froh um sein Erbteil. Das Bankgeschäft sei auch nicht mehr was es war.

Mir gehe es ähnlich, erwiderte ich. Dann wandte ich mich ab und verkniff mir ein Grinsen. Na sowas, das von meinem Bruder. Die Mutter war kaum richtig im Boden, und der sprach vom Erben. Ich staunte über sein pragmatisches Denken. Oder wollte er sich nur bei mir anbiedern? Und weshalb? Da musste ich mich vorsehen.

Anderntags in aller Frühe - mein Bruder schlief noch - kümmerte ich mich um die Papiere meiner Mutter, studierte ihre Bankauszüge und fand in den Dokumenten einen interessanten Vertrag: Meine Mutter, stand da, hatte meinem Bruder vor einigen Jahren ein grösseres Darlehen gewährt, fast die Hälfte von Vaters Nachlass. Als Erbe-Vorbezug war die Summe deklariert. Ein schneller Blick auf die Bankauszüge zeigte mir, dass das nicht sein konnte, es war keine Auszahlung in vergleichbarer Höhe aufgeführt
.
Die Sachlage war klar: mein Bruder hatte zwar nichts geerbt, aber bei meiner Mutter irgendwelche Einkünfte legalisiert, gewaschen, um die Herkunft des Geldes zu verschleiern. Ich staunte. Mein lieber, ehrbarer Bruder! Und das gewaschene Geld hatte er offensichtlich bereits wieder verspekuliert. - Ich brachte den Vertrag in Sicherheit, er war Gold wert für mich.

Anderntags, im alten, jetzt leer stehenden Haus der Mutter, fragte ich meinen Bruder beim Räumen des Nachlasses beiläufig, ob er denn über die Runden käme, so ganz ohne Erbanteil. Wie ich denn das meine?
Nun, seine Mutter habe ihn ja bereits ausbezahlt. Ich betonte das Fürwort „seine“. Er kapierte schnell. Das sei eine verdammte Lüge! Ich hätte mein ganzes Leben gelogen.

    Doch jetzt werde Bilanz gezogen. Bilanz?, schrie ich, die kannst du haben, Muttersöhnchen, scheinheiliges, bald wird abgerechnet! Mein grosser Bruder packte mich und schleppte mich die Treppe hinunter in die Kellerkammer. Ich griff mir einen Stein vom Boden, doch er schleuderte mich mühelos gegen die Wand.

Alles zu seiner Zeit, schnaufte er. Einer von uns zweien sei zu viel auf dieser Erde, ich hätte nicht nur ihn lebenslang gequält, sondern auch die Mutter ins Grab gebracht, nun fordere er mich zum Duell. Er komme wieder, mit zwei Degen. - Dann liess er mich mit Streichhölzern, einer Kerze und Schreibzeug sitzen. Für meine Beichte, sagte er.

Was meinte der verfluchte Kerl mit Bilanz? Er, der immer der Bevorzugte war, wollte eine Abrechnung? Und ein Duell? Wollte er mich erledigen, als Zeuge seines Betruges?

Da sitze ich nun und schreibe, die Kerze ist beinah heruntergebrannt. In kurzer Zeit wird mein Bruder wieder in den Keller kommen, er wird die zwei Degen mitbringen und mich zum Duell fordern. Offensichtlich will er vor sich selbst den Anschein von Fairness bewahren, was natürlich absurd ist, denn mein Bruder muss wissen, dass ich gegen ihn, den physisch durchtrainierten Sportstypen, nicht die geringste Chance habe. - Wie dem auch sei, ich meinerseits habe keinesfalls vor, mich auf die alberne Unternehmung einer Degenfechterei einzulassen.

Ich habe deshalb vorhin eine kurze Schreibpause eingelegt, um die alte Eisentür, durch die mein Bruder kommen wird, in Augenschein zu nehmen und ein wenig zu präparieren. Es handelt sich bei dieser Kellertür um eine spezielle, nachträglich eingebaute Konstruktion: die Tür geht nach aussen auf, aber die Zarge ist mittig in das Mauerwerk aus Bruchstein eingelassen, sodass die verzapften Scharniere von beiden Seiten zugänglich sind.

Mit einiger Anstrengung ist es mir gelungen, mit einem halb verrosteten Armierungseisen die Zapfen aus den Scharnieren zu hebeln, ich bin noch immer etwas ausser Atem, meine Hände sind ölig und die Finger blutig, denn ich musste ja zuerst ohne Werkzeug, nur mit einem rostigen Nagel ausgerüstet die Splinte aus den Zapfen ziehen. Jedenfalls aber wird die schwere Tür, wenn mein tapferer Degenfechter sie in wenigen Minuten aufziehen wird, sich in einer gänzlich unvorhergesehenen Weise öffnen - indem sie ihm nämlich entgegen fällt. Auf der engen Kellertreppe gibt es kein Ausweichen, und ein Stoss von meiner Seite wird die Sache beschleunigen. Mein Bruder wird sich vielleicht in seinen letzten Sekunden an das Abenteuer am Güllenloch erinnern - auch da hatte er mich unterschätzt. Es wird also vermutlich nicht zu dem aufgezwungenen Duell kommen, in dem ich, wie gesagt, keine Chance hätte. Mein Vorgehen entspringt folglich reinster Notwehr. Selbst meine Mutter müsste mir da Recht geben. Es liegt deshalb auch sicher nicht an mir, etwaige Reue zu zeigen, habe ich doch alles versucht ---

Jetzt muss ich enden, so oder so, denn ich höre Schritte auf der Treppe.
 
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