Texte
Der Berg ruft
– eine Grenzerfahrung
Marco Panozzo
Wenn er gewusst hätte, was da auf ihn zukommt, wie sehr er geprüft würde, welche Gefühle sich in ihm breit machen würden, in einer nie erlebten Intensität. Frohgemut und in aller Zuversicht machte er sich auf den Weg und blickte plötzlich in einen Abgrund.

Aber der Reihe nach. Der junge Mann, nennen wir ihn Stefan, will zusammen mit seiner Partnerin, Claudia, eine Wanderung in den Walliser Alpen machen. Alles ist parat, da kommt ihr unerwartet etwas dazwischen und sie kann nicht gehen. Stefan entscheidet sich, die Tour allein zu machen, so kurzfristig findet er niemanden, der mitgeht und er hat sich darauf eingestellt, dass es an diesem schönen Spätsommertag sein muss. Claudia mahnt ihn, nicht zu gehen, weil es ihrer Meinung nach zu gefährlich ist, allein in den Alpen unterwegs zu sein. Stefan weiss eigentlich, dass sie recht hat, aber er wischt ihre Bedenken beiseite, selbstbewusst wie er ist, und bekräftigt seinen Entscheid, zu gehen. Nach einer weiteren, aber unfruchtbaren Diskussion, die in einem kurzen Streit endet, macht er sich auf den Weg. Er hat zuvor sichergestellt, dass seine Ausrüstung vollständig und angemessen für eine Tour im hochalpinen Gebiet ist. Er kennt sich dort aus, wo er hin will, er war dort mit einer Gruppe früher schon unterwegs. Zudem ist er ein erfahrener Berggänger, konditionsstark und er hat ein gutes Gefühl für Zeit und Raum in einer Berglandschaft.

Er ist früh dran und kommt gut vorwärts, das Wetter könnte nicht besser sein, das Alpenpanorama postkartenmässig. Bei der ersten Rast in einer Berghütte ruft er noch zu Hause an und sagt, dass alles nach Plan verläuft. Die Tour ist zwar lang und er geht davon aus, dass er erst am späten Nachmittag wieder im Tal sein wird, aber es ist ja Spätsommer und der Tag geht erst nach acht Uhr abends zu Ende.

Im Verlaufe des Nachmittags, und schon im Abstieg, der Himmel ist immer noch wolkenlos, sieht er, wie sich eine kleine Wolke das Tal hinaufschiebt. Eine kühle Erfrischung, denkt er sich. Aus der kleinen Wolke entsteht ein Nebelfeld, oder wie man treffender sagt, eine Nebelwand, die ihn umhüllt. Nicht, dass Stefan nicht weiss, was damit verbunden sein kann, aber er bleibt ruhig und geht nur noch mit kleinen Schritten weiter, so gut eben, wie er sieht, wo er den Fuss hinsetzt. Der Nebel wird dichter, das Licht nimmt ab, es wird kälter. Er zieht sich eine Jacke über und hält an.

Ein Weitergehen empfiehlt sich nicht mehr, der Weg ist zu steil, das Gelände zu unwegsam, die Sicht inzwischen bei null. Die Stille macht die Szenerie zusätzlich ungemütlich. Jetzt heisst es, einen klaren Kopf behalten. Er sieht nach, ob er Empfang hat auf seinem Handy, aber er kennt die Antwort schon bevor er es aufklappt. Nach und nach wird ihm bewusst, dass er sich in einer Situation befindet, in der er noch nie war und nicht weiss, wie er wieder aus ihr hinausfindet.

Die Panik bricht noch nicht aus, aber das Wort geht ihm jetzt zum ersten Mal durch den Kopf. Er ruft so laut er kann, es ist eine Handlung, die sich aufdrängt, aber es kommt keine Antwort. Selbst wenn jemand da wäre, wie sollte er zu ihm finden in diesem Nebel? Er setzt sich. Wenn wenigstens der Wind wehen und den Nebel verblasen würde, aber nein, nur dumpfes, kaltes, stilles Grau umgibt ihn. Eine unangenehme Enge macht sich in seiner Brust bemerkbar. ‘Ich muss das jetzt durchstehen’, denkt sich Stefan. Zu essen und trinken ist noch da. Er befindet sich noch auf über 2000 Meter Höhe, die Nacht würde kalt werden. Anderen Gefahren, glaubt er, sollte er nicht ausgesetzt sein.

Eigentlich ist es eine klare Situation, mit dem kommenden Tag und der Kraft der Sonne würde der Spuk schon am Vormittag vorbei sein und er munter ins Tal hinuntergehen. Er realisiert, wie er sich Mut zuredet und das auch muss, er kann nicht anders. Aber das befreit ihn nicht vom Druck, der jetzt fast minütlich in ihm ansteigt. Mit dem Eindunkeln nützt es wenig, wenn der Nebel sich verziehen sollte. Die Taschenlampe ist eine zu geringe Lichtquelle in diesem Gelände und zudem ist gerade eine Neumondphase. Nicht einmal eine Eule ruft, die ihm wenigstens lautlich Gesellschaft leisten könnte und er sich nicht so einsam fühlen würde.

Wenn kein Wunder geschieht, wird er die Nacht an diesem Ort verbringen, vielleicht auch mehr. Vor kurzem war er noch ein glücklicher und selbstbewusster Mensch und nun lauern die ersten Gedanken, von denen er nicht einmal träumte, dass er sie haben könnte. Es ist weniger die physische Bedrohung als die mentalen Prozesse, die sich in seinem Kopf abspielen, die ihm Angst machen. Er meint gelesen zu haben, dass jeder Mensch seine Entwicklung nicht abgeschlossen hat, bevor er nicht eine Erfahrung gemacht hat, die ihn an seine Grenzen bringt. In diesem Moment empfindet er diesen Gedanken aber bestenfalls als Galgenhumor.

Er würde gerne in einen tiefen Schlaf fallen und dann aufwachen, wenn das alles vorbei wäre. Das kann er aber nicht, der schlechte Film in seinem Kopf hat erst angefangen. Er realisiert plötzlich, dass da unten ja noch Menschen sind, die auf ihn warten und die ihn vor seinem Abenteuer warnten. Wenn das alles ein gutes Ende nehmen sollte, bliebe immer noch die Scham, sich einer solchen Situation fahrlässig ausgesetzt zu haben.

Dann kommen auch die ersten Schuldgefühle gegenüber den Personen, die ihm nahestehen, seiner Partnerin Claudia, die sein Rückhalt ist und die stärkere von beiden. Er kann es sich erst jetzt zugestehen, in dieser ausweglosen Situation. Sie wird sich Sorgen machen und verzweifelt nach ihm suchen lassen. Dass er ihr das antun muss. Er denkt an Verletzungen, die er ihr zugefügt hat in der Vergangenheit, nicht absichtlich, so im Vorbeigehen. Dies sind die Gedanken, die ihm durch den Kopf gehen, plötzlich ist das alles da und erdrückt ihn. Ist das jetzt die berühmte Strafe Gottes? Er war doch kein so schlechter Mensch, denkt er sich, dass es gleich so kommen muss in seinen noch jungen Jahren. Für einen Moment erwägt er, zu ihm zu sprechen und um Hilfe zu bitten, aber das ungeübte Anflehen von ihm als Ungläubigen, jetzt in seiner Not, beelendet ihn mehr, als dass es ihm Hoffnung gibt.

Nein, es ist Schicksal, wie es jeden irgendwann ereilt. Helfen tut ihm das nicht, er hat wohl noch Stunden vor sich und so selbstbewusst er bisher durch Leben ging, so verletzlich und klein kommt er sich nun vor. Gibt es noch irgendeine Strategie, die ihn weiterführt? Er sieht sie nicht, es ist die pure Verzweiflung, dass er mitten in der Natur auf diesem einen Quadratmeter eingesperrt und zum Nichtstun verurteilt ist. Der Überlebenswille ist noch da, aber wie lange noch? Was immer er zuvor noch rational durchgehen konnte, ist jetzt unterbrochen von wechselnden Gefühlen, die ihn wild durcheinander überkommen. Auf Schuld folgt Scham, Wut, Angst, Hoffnung, Zweifel und erneut Angst. Er darf nicht aufgeben.

Unterdessen ist die Nacht hereingebrochen, das Zeitgefühl hat er verloren. Irgendwann hat er etwas gegessen und die Kleider übergezogen, die er noch bei sich hatte. Die schützen ihn zwar vor Nässe, aber nicht vor der Kälte. Diese ist inzwischen in seinen Körper eingedrungen. Der Stress hat ihm die Kräfte geraubt, die er bräuchte, um sich zu bewegen und sich warm zu halten. Die zunehmende Unterkühlung verlangsamt die lebensnotwendigen Funktionen, die Atmung, den Herzschlag, nach und nach auch die Abläufe in seinem Gehirn. Eine leise Lethargie überkommt ihn, der Widerstand lässt nach. Von allem, das ihn umgibt, entfernt er sich langsam in einen anderen Raum.

Dann hört er Stimmen aus der Ferne. Sind das schon die aus dem Jenseits? Dann eine Berührung, Fragen, die ihm jemand stellt. Er wacht auf aus seinem realen Albtraum. Man hat ihn also gefunden. Noch kann er nicht beschreiben, wie er sich fühlt, keine Antworten geben. Er ist gefühlt immer noch in einem Tunnel. Er weiss nur, dass er nicht mehr derjenige ist, der er einmal war. Später glaubt er sich zu erinnern, dass ihm in jenem Moment Begriffe wie Bescheidenheit und Demut durch den Kopf gegangen sind.
 
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