Texte
fremd hier/zugezogen
Deny Lanz
Mein Freund, der Säufer

Erst habe ich jahrelang nichts von deinem Tod erfahren, und als ich die fünfhundert Meilen endlich auf mich nehmen konnte und auf dem Bremgartenfriedhof in Bern ankam, suchte und suchte ich dich vergebens. Stattdessen fand ich verwahrloste Gräber mit deinem Namen eingemeißelt, aber niemals stimmten Geburtsjahr und Vorname. Es war so, als ob du mich an der Nase herumführen wolltest, eine jämmerliche und beschissene Situation. Dazu begann es auch noch zu regnen. Ich lief wie ein kopfloses Huhn auf dem Friedhof herum, ging suchend von Grab zu Grab und klapperte alle Reihen ab. In meiner Linken hielt ich einen Flachmann für die Nerven, in meiner Rechten sechs verwelkte Rosen, die ich letzte Nacht in irgendeiner Hotelbar für dich geklaut hatte. Rote Rosen.

Und irgendwann wurde mir das Scheissspiel zu dumm, ich nahm einen kräftigen Schluck vom Schnaps und legte die Blumen auf ein unbekanntes Grab. Zu spät war ich gekommen und geisterte hier herum. Du warst längst weg, über alle Berge des Berner Oberlandes oder über die Täler des Emmentals. Vielleicht warst du in L.A. oder in Mexiko. Wer wusste schon, wo du dich wirklich versteckt hattest? Auch der Friedhof ist nur eine Station.

Ich wollte zurück zum Bahnhof und landete stattdessen in einer Kneipe namens Tram-Egge, bestellte mir gleich zwei Bier auf einmal und dann noch eins und ab und zu trank ich einen Schluck aus meinem Flachmann. Je mehr der Alkoholpegel stieg, desto sympathischer wurden mir die Gegend und die Kellnerin.

Ich war in der Bronx von Bern gelandet. Diese Siedlungen bestehen aus den ältesten Hochhäusern der Schweiz. Einige sind sogar denkmalgeschützt. Zu Bethlehem gehören unter anderem die Quartiere Tscharnergut, Gäbelbach, Bethlehemacker und Holenacker. Es könne sein, dass Bethlehem einst Bettelheim hiess, weil sich dort die Armen niedergelassen hatten, erzählte ein Typ, der aussah, als ob er hier zum Inventar gehörte. Der Name könne aber auch von Jesus herstammen.

Ich wusste nicht, ob man ihm glauben konnte. Es klang jedenfalls lustig. Ich trank noch einen und gab ihm ein Bier aus. Bethlehem ist ein Stadtteil im Westen von Bern. Eine Proletengegend, nichts anderes. Ich hätte keinen Grund gewusst, warum man ausgerechnet hierher kommen sollte, und meinen Freund, den Säufer, der mir noch viel Geld schuldete, hatte ich auch nicht gefunden. Keiner kannte ihn hier. Vielleicht lag er in dem namenlosen Grab, fiel mir plötzlich ein.
Egal, ich war betrunken, und er war tot.


8. November

Alles kahl, kühl und glanzlos. Von Mannheim sitzt sie im Zug nach Bern, wo sie als Krankenschwester am Inselspital arbeitet. Ein grauer Novembertag, und wer als Vogel halbwegs fit ist und wegfliegen kann, ist längst gen Süden gezogen. Alte, müde Flügel schlafen ein und erstarren, zugefroren vom Winter. Alles bleibt im Fluss, und trotzdem sind die Gedanken der Krankenschwester gezeichnet von Angst und Einsamkeit. Enttäuscht vom Leben.

Der Winter ist nicht ihre Jahreszeit. Sie ist 46 und allein. Zehn Jahre in der Schweiz, aber immer noch fremd. Und alles, was sie in Deutschland noch hat, ist ihre Mutter in Mannheim, wohnhaft im Quadrat L 14, in jenem Haus 10, wo sie als Einzel- und Scheidungskind aufgewachsen ist. In dem Haus gab es seinerzeit eine Kneipe mit phänomenalen Bierumsätzen, heute umgebaut in ein indisches Lokal. Mittagsbuffet «All you can eat» für 7,90 Euro, ein Softdrink inklusive.
«Es hat sich so vieles verändert, und nichts ist geblieben, wie es war. Menschen und Kneipen sind verschwunden. Alles kommt, blüht auf und geht dann wieder. Genauso wie die Jahreszeiten und die kommende Weihnachtszeit», denkt sie und schaut zum Fenster hinaus auf die gefrorene Landschaft. Und ihr Vater? Den hat sie seit gefühlt tausend Jahren nicht mehr gesehen. Sie wohnt in Bern-Bethlehem in einer Frauen-WG und hat ihre Träume vor langer Zeit begraben. Ihr Beruf ist Krankenpflegerin, doch wer pflegt sie?


Der Araber

Der Araber wird deshalb Araber genannt, weil er aussieht wie ein Araber. Eigentlich kommt er aus Georgien.
Ich sehe ihn öfter mal in der Tram-Egge sitzen, im Raucherabteil, abends nach der Schicht. Und immer, nächtelang, trinkt er dieses grässliche grüne Zeug, genannt Pfefferminzlikör. Ich dachte anfangs, es wäre Absinth, aber bei der Menge hätte sich der Araber längst vergiftet und ins Grab gesoffen. Kippt sich die Medizin, wie er es nennt, in den Magen, so wie ich das Bier, einfach Hardcore!

Als Dachdecker sei er tätig, hieß es. Und ledig auch. Gut aussehend ist er, schlank, aber kräftig, und die Arme muskulös. Dreitagebart und dunkle Augen, dazu schulterlange Löckchen. Hat was von Peter Maffay, hab ich immer gedacht. Mal lebt er im Tscharnergut, dann wieder im Stöckacker, je nach der aktuellen Freundin. Und Frauen gibt es hier reichlich: Geschiedene, Verwitwete und Singles. Überall lockt die Gelegenheit, möblierter Wohnraum in unterschiedlichen Hochhäusern mit gutem Ausblick aufs Land, den Wald und die Autobahn. «Nenn mich einfach Araber», gibt der Georgier zu Protokoll, wenn eine Lady nach seinem Namen fragt. Ein guter Trick, denke ich. Sein Charme macht es eben aus, damit kann er auftrumpfen und angelt sich praktisch jede. Bestimmt hat er schon mehrere uneheliche Kinder bei einem solchen Nomadenleben. Na ja, ich bin nicht viel besser, ehrlich gesagt.

In der Tram-Egge sitzen, Bier trinken und Leute beobachten, das mochte Paradiso gerne. Hier vernahm er einiges über seine Mitmenschen in Bethlehem. In diesem Schmelztiegel der Nationalitäten beträgt der Ausländeranteil 40 Prozent. Kaum woanders hat man leichter die Möglichkeit, so viel Kultur an einem Ort zu erleben. Und das Miteinander gestaltet sich erstaunlich respektvoll. Natürlich gibt es auch mal Streit oder eine Schlägerei und alle paar Wochen mal eine Messerstecherei. Das gehört wie in jeder anderen Stadt auch dazu. Es gibt Glück und Leid, Leben und Tod; es wird gearbeitet, gesoffen und gevögelt, so wie überall. Nicht mehr und nicht weniger.


Superstar

Vesna hat es geschafft – sie darf im Fernsehen auftreten! Aus einer Vielzahl von Bewerbern wurde sie auserwählt, ihre Begabung als Sängerin erkannt. Seit Wochen arbeitet sie auf den Recalltermin in Deutschland hin.

Die Toleranzgrenze der Nachbarn ist ausgereizt, sie sind mit ihrer Geduld am Ende. Kann sie denn nicht wenigstens einmal ein anderes Lied anstimmen, nicht immer das gleiche singen? Einzig ihre Mutter glaubt an Vesna, hat ihre Tochter immer unterstützt, von Anfang an. Sie bezahlte den Gesangsunterricht, ging zur Arbeit für ihr Kind. Vesna ist etwas Besonderes und soll es einmal besser haben als sie, damals in Jugoslawien.

So übt und singt sie täglich viele Stunden. «Ain’t No Sunshine» von Bill Withers. Immer wieder von vorne, und wenn es zu Ende ist, noch einmal von vorne. Jede Zeile muss sitzen, jeder Ton perfekt platziert sein. Sie will bei Dieter Bohlen gewinnen, denn das ist ihr grosser Traum und das Ziel rückt immer näher. Gut so, bald wird Schluss sein mit der lästigen Arbeit im Discounter. An der Kasse sitzen und Waschpulver, Fischstäbchen und gefrorene Himbeeren herumschieben oder Ravioli-Büchsen auffüllen und Zigaretten herausgeben, von morgens bis abends. Die reine Zeitverschwendung, alles unter ihrem Niveau.

Vesna ist eine verkannte Künstlerin und niemand glaubt an sie, doch nun wurde man aufmerksam auf ihr Talent. «Ich steh kurz vor dem Durchbruch zum Superstar. Dieses Lied vor Dieter Bohlen und ich bin auf dem besten Weg …»
Schon als sie fünf Jahre alt war, wusste Vesna, dass sie eines Tages als Soulsängerin auf einer großen Bühne stehen würde. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt. Er ist im Jugoslawienkrieg ums Leben gekommen. Die Mutter flüchtete mit dem Kind in die Schweiz. Wie alle großen Bluessängerinnen hatte auch sie es nicht leicht im Leben, doch jetzt soll alles anders werden. Nur noch drei Wochen bis zur Show in Köln, sie fiebert auf das Datum hin.
Als endlich der Tag kommt, singt sie perfekt, so gut sie kann, doch das ist leider zu wenig und sie verfehlt die nächste Runde um ein Haar.

Die Jury tat sich schwer, dennoch hat sie sich knapp gegen Vesna entschieden. Von einer ausgeschiedenen Live-Show-Kandidatin würde man vielleicht noch reden, doch niemand interessiert sich für eine im Recall Gescheiterte. Ein paar Wochen später wissen die meisten nicht einmal mehr, wer sie ist. Willkommen im Alltag, zurück an der Kasse im Discounter.

Billiges Bier tippen, billigen Whisky tippen, billigen Wein tippen den ganzen Tag – alles billig und ekelhaft. Himmel, Arsch, wie ungerecht! Ein einziges Mal tritt sie noch auf, in Bümpliz im Pub, vor ungefähr fünfzehn Leuten. Nicht viel später heiratet sie einen Griechen, ist bald Mutter und bringt in fünf Jahren drei gesunde Kinder zur Welt. Das Leben beschenkt sie reich. Es ist ja okay, aber anders als gedacht.


Türkische Augen

Man sah dir an, dass du anders warst,
deine Augen waren dunkel, deine Haut solariumbraun.
Beim schwarzen Tee kamen wir ins Gespräch,
neulich im Café Orient.
Du fragtest: «Darf ich den Zucker haben?»
Ich sagte: «Meinetwegen noch viel mehr!»
Türkische Augen sahen mich an,
mein Herz wurde weich und warm.
Später beim Spazierengehen und in der Strassenbahn
gafften uns Menschen
mit fremdenfeindlichen Blicken an.
Es war uns egal!


Gefunden

Tausend Tage und Nächte waren nicht genug.
Er war unersättlich nach ihrer Liebe, süchtig nach ihrem Sex.
Sie war eine Zauberin, machte ihn blind und taub.
Für die Arbeit war er zu schlaff, in seinem Kopf
existierte nur noch sie.
Sie hiess Manuela, war arbeitslos, zwei Mal geschieden,
verschuldet und Sozialhilfe-Empfängerin.
Sie griff nach dem Strohhalm, und das war er.
Er hiess Johnny, war beim Bezirksamt tätig,
erfolglos bei den Frauen,
hässlich, aber heiss und gut situiert.
Sie haben sich gefunden.

Deny Lanz aus seinen Buch-Veröffentlichungen "Die Sliwowitz-Mama" (2021) und "Schöner blauer Nachmittag" (2023) - erschienen im Verlag "container press": www.containerpress.de
 
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