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Geschwisterliebe: ein Leben zwischen Extremen?
Alice Killenberger
Geschwister sind wie Koriander: entweder man liebt sie oder man hasst sie. Sagt eine Freundin von mir.

Als ich mich entschied, einen Beitrag über Geschwisterliebe zu schreiben, war das Motiv ganz klar. Ich habe die beste Schwester der Welt, ich liebe Koriander und sie auch. Dann fiel mir aber ein, dass der Ursprung aller Geschwister– logo! – die Eltern sind. Ob das Kind nun geplant oder als Unfall zu ihnen kam, die erste Geburt eines Babies ist immer ein unglaubliches Erlebnis. Sagen zumindest alle Mütter und Väter, die ich kenne. Weil ich selber aber keine Kinder habe, kann ich das nur vom Hörensagen her weitergeben. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an meine Eltern, dass sie sich zu einer solchen Rasselbande entschieden haben. Sonst stünde ich nämlich heute nicht hier und könnte über meine Familie erzählen. Dass dies eine rein subjektive Darstellung wird, dürfte klar sein, oder?
Meine Eltern waren sehr jung, als sich mein älterer Bruder anmeldete, 19 und 21. Irgendwie haben sie es in der Eile hingekriegt, dass er 1961 in ehelichen Verhältnissen zur Welt kam. Wäre meine Mutter minderjährig und unverheiratet gewesen, hätte man ihr zu dieser Zeit das Kind weggenommen und sie in eine Frauenerziehungsanstalt gesteckt. Ja, sowas gab es noch bis in die 80er Jahre. Unglaublich, wie wenig Selbstbestimmungsrechte eine Frau damals noch hatte.

Eineinhalb Jahre später kam ich zur Welt, quasi auf den Tag genau am Ende des kältesten Winters seit der Wetteraufzeichnung. Plötzlich hatte mein älterer Bruder, der bis dort noch ein Einzelkind war, ein Geschwisterchen. Was ihm aber gar nicht in den Kram passte. Als meine Eltern nämlich mit mir aus dem Krankenhaus nach Hause kamen und ihm erklärten, dass er jetzt ein Schwesterchen habe, hat er mich laut Erzählungen zuerst kritisch angeschaut und mir dann gleich vorsorglich eine geknallt. So viel zu Geschwisterliebe… Der andere Mann im Haushalt – mein Vater – hatte dafür umso mehr Freude an mir. Tja, und dann meldete sich schon wieder ein Konkurrent an, mein jüngerer Bruder folgte bloss 14 Monate nach mir. Als dann nochmals 18 Monate später meine kleine Schwester zur Welt kam, hat mein älterer Bruder wohl definitiv resigniert und ist deshalb in die Beschützerrolle geschlüpft. Meine Eltern fanden bald, dass vier Kinder genug seien, also Ende der Geschwisterflut.

Eine lustige Anekdote noch hierzu: Auf die häufige Frage, wie man es denn hinbekommt, solch regelmässige Orgelpfeifen auch noch schön abwechselnd Junge / Mädchen zu produzieren, antwortete mein Vater immer schmunzelnd: «Für Jungs zieht man beim Sex die Socken aus, für Mädchen lässt man sie an.» So viel zur Manufaktur von Brüdern und Schwestern.

Wie aber um alles in der Welt übersteht man so eine Rasselbande unbeschadet? Als ich das vor ungefähr 30 Jahren an einem unserer traditionellen Sonntagsessen mit der ganzen Familie mal in die Runde schmiss, antwortete mein Vater mit einem Lächeln und meine Mutter mit dem Satz: «Mit ganz viel Liebe und Geduld.» So einfach ist das also? Wem die Geduld schon mal ausgegangen ist, weiss auch, dass einem die Liebe manchmal auf harte Proben stellt.

Ich finde, dass ich recht privilegiert bin. Wenn Sie nun meinen, ich verfüge über Geld, Macht und Einfluss, muss ich Sie enttäuschen. Privilegiert, weil ich in einer Familie gross werden durfte, in der die vier Geschwister viele Freiheiten ausleben durften, sich aber auch an knallharte Regeln halten mussten. Kleine Streiche wurden mit mahnenden Worten abgehandelt, vorsätzliche Ungerechtigkeiten aber mit Hausarrest bestraft. Das Motto war: «Wenn ihr etwas tut oder lasst, hat das immer Konsequenzen. Also überlegt euch vorher gut, wofür ihr euch entscheidet.» Diese Erziehungsmethode hat bei dreien von uns die Basis zu einem ausgeprägten Rechtsgefühl für Menschen und Umwelt gelegt. Einer schlug dennoch quer. Aber schön der Reihe nach:

Vom Start mit meinem älteren Bruder habe ich ja schon erzählt. In seiner Funktion als Beschützer sah er sich lange Zeit auch als mein «Bevormunder vom Dienst». Er bildete sich ein, er könne bestimmen, was für mich gut sei und was nicht. Und das manchmal auch handfest. Allerdings hat er mir auch immer geholfen, wenn ich mal wieder von irgendwelchen Kids verprügelt wurde. Als ich 10 Jahre alt war, fand er, er könne nicht immer auf mich aufpassen und hat mir sehr effizient beigebracht, wie man zurückschlägt. Gegen den Willen meiner Mutter natürlich, die fand, dass Gewalt keine Lösung sei. Ich musste allerdings bloss ein einziges Mal richtig zurückschlagen und danach hat mich nie wieder jemand verprügelt. «Scheisse, die kann sich ja wehren.», haben die schnell gemerkt und zack, war ich als Opfer nicht mehr interessant. Dank meinem grossen Bruder. Guter grosser Bruder. Ein paar Jahre später teilten wir uns dann eine Leidenschaft, die uns unser Vater mitgegeben hat: die Liebe zum Tanz. Beide haben wir Jazz Ballett in der gleichen Schule gelernt. Und als er sich – ich war gerade 20 – bei mir für all die Gemeinheiten, die er mir je angetan hatte, entschuldigt hat, wurde er endgültig zum tollen grossen Bruder. Mit ihm kann ich mich heute auf sachlicher und emotionaler Ebene über vieles austauschen und das ist sehr wertvoll für mich.

Mein jüngerer Bruder hat sich – vermutlich wegen eines schweren Unfalls mit 13 – zu einem Narzissten entwickelt. Diese Bezeichnung steht im weitesten Sinne für die Selbstverliebtheit und Selbstbewunderung eines Menschen, der sich für wichtiger und wertvoller hält als andere Menschen. Was die Ursache für seine charakterliche Entwicklung war, kann ich nicht beurteilen. Sein wichtigstes Lebensziel aber war schon mit 18, dass er mit 30 einen Ferrari fährt. Um das zu erreichen, musste er ein skrupelloser Manager werden, den das Wohl seiner unprofitablen Mitmenschen nicht interessiert. Mein Bruder ist mir fremd geworden, weil er ein Verhalten an den Tag legt, das mir völlig zuwider ist. Meine Mutter behauptet zwar, an seinem heutigen Charakter sei sein «Sandwich-Dasein» Schuld, aber dann wäre ich ja auch ein Sandwich-Kind gewesen... Hatte ich einfach nur Glück, dass ich gute Freundinnen und Freunde hatte, denen ein Miteinander und Toleranz wichtiger waren als materielle Werte? Die Freunde meines jüngeren Bruders haben sich schon früh durch teure Autos, Lifestyle und Überheblichkeit ausgezeichnet. Gegensätze ziehen sich hier definitiv nicht an. Und nur weil er mein Bruder ist, muss ich ihn ja nicht lieben. Minus ein Geschwister also.
Nun zu den Mädchen. Oder zu dem, was ein Mädchen hätte sein sollen oder eben nicht.
Als Kind war ich wohl eher ein Junge wie ein Mädchen: ich war sogar mehr im Wald und auf Bäumen unterwegs als meine Brüder. Die Natur war mein Spielplatz und mein Rückzugsort gleichzeitig. Mit Puppen spielen oder all das andere Mädchenzeug? Bloss nicht! Ich hatte mehr Jungs in meinem Freundeskreis damals als Mädchen, weil mir deren Gekichere so auf die Nerven ging.

Meine kleine Schwester dafür war das typische Mädchen. Sie hat mit Puppen gespielt, war immer sauber angezogen, liebte hübsche Kleidchen und spielte mit einer Kinderküche. Ich war lieber in Latzhosen und Gummistiefeln draussen oder habe mit gesammelten Natursachen etwas gebastelt. Oder Fasnachtskostüme zum Beispiel: Ich ging als Indianer, meine Schwester im süssen Fliegenpilzkleidchen. Und dann zwei Stunden Unterschied in der Morgentauglichkeit: Sie ist ein gut gelaunter «early bird», ich ein miesepetriger Morgenmuffel. ((Fragen Sie mal meine Mutter, wie sie es geschafft hat, mich jahrelang rechtzeitig aus dem Bett zu bekommen!)) Meine Schwester und ich glichen einander zwar optisch, aber vom Charakter her waren wir kreuzverschieden. Und sind es bis heute noch. Doch hier ziehen sich Gegensätze wieder an.

Die vier Jahre Altersunterschied als Kinder waren noch etwas mühsam, vor allem, als ich mit 12 in die Pubertät kam. Ich mutierte zum grossen Erstaunen meiner Eltern nämlich innert Monaten zum Teeniemädchen und meine Schwester war noch ein Kind in der zweiten Primarklasse. Das hatte für ein paar Jahre ziemliches Konfliktpotential, weil wir uns ein kleines Zimmer teilten - für heutige Verhältnisse unzumutbar. Wir lernten aber dadurch, miteinander auszukommen und auf die andere Rücksicht zu nehmen. Zumindest uns zwei Mädchen hat das zusammengeschweisst, auf Lebenszeit. Unsere zwei Brüder allerdings haben sich in ihren «besten Zeiten» auf dem gleichen engen Raum gegenseitig fast umgebracht. Die haben das in Form von männlichen Hahnenkämpfen ausgemacht, wir zwei Mädels haben versucht, Kompromisse zu finden. Interessanterweise hatten damals andere Schwestern in unserem Umfeld, die auch so eine Art «Hühnerkämpfe» ausführten. Die hatten aber eigene Zimmer, also jede für sich allein. Hmmmm….

Ob das enge Zusammenleben die Verbindung zu meiner Schwester begründet oder gefördert hat, kann ich wirklich nicht sagen. Was ich heute aber mit 100-prozentiger Sicherheit weiss: Ich habe die beste Schwester der Welt.
Deshalb müssen Sie sich jetzt eine kleine Liebeserklärung an den wichtigsten Menschen in meinem Leben anhören:

Liebe sorella im fernen Australien ((sie ist dort gerade in den Ferien))
Was würde ich bloss ohne dich machen? Du warst immer für mich da, egal in welcher Schieflage mein Leben gerade war. Liebeskummer? Nervenzusammenbrüche? Todesfälle von wichtigen Menschen oder geliebten Tieren? Burn-outs? Du warst an meiner Seite. Mit Mitgefühl, Geduld und Klarsicht. Und das manchmal auch ziemlich energisch. Du kennst mich eben in- und auswendig, dir kann ich nichts vormachen. Du hast es sogar fertiggebracht, gute Freunde von mir in den Senkel zu stellen, wenn es nötig war. Aber auch ich habe ab und zu mal eine Abreibung von dir bekommen, meistens berechtigt. Alles verziehen.

Wir teilen die Liebe zu Tieren und Natur, das geniesse ich sehr in den Momenten mit dir. Brauche ich mal einen Hundesitter? Easy, machst du doch glatt, oft mit Unterstützung der Eltern. Dafür helfe ich dir im Garten, wenn du mich brauchst.
Ich muss mal notfallmässig ins Krankenhaus? Kein Problem, du rast im WoMo mit deinem Liebsten aus Südfrankreich nach Hause und bringst hier alles unter Kontrolle.
Aber ich bin froh, dass ich auch dir ab und zu unter die Arme greifen konnte, sonst wäre unsere Freundschaft schon etwas bedenklich. Du bist nicht nur meine Schwester, sondern auch meine beste Freundin und dafür bin ich unendlich dankbar.

So, hier endet meine Laudatio.
Die Reflektion über meine Geschwister bzw. meine Familie eröffnet mir heute einige unbeantwortete Fragen: Wie lebt sich Gruppendynamik in der Familie aus? Welche Faktoren bewirken ein Plus oder ein Minus? Hat mein jüngerer Bruder zu wenig Empathie, weil ich zu viel davon habe? Warum kann ich Sprachen und wenig Zahlen, währenddem meine Schwester das genau umgekehrt drauf hat? Warum hat mein älterer Bruder einen schweren angeborenen Sehfehler und ich hatte bis vor 10 Jahren Adleraugen? ((Die altersbedingte Fernsichtigkeit hat aber auch mich zu einer Lesebrille verdonnert)) Sollte es nicht so etwas wie eine gerechte Verteilung innerhalb der Familie geben? Ist jemand schuld an der unproportionalen Zuteilung von Talenten und Gebrechen? Oder macht das alles einfach unsere Individualität aus?

Persönlichkeitsforscher Jens Asendorpf fasst das Credo der modernen Entwicklungspsychologie so zusammen: «Wie ein Mensch sich im Laufe seines Lebens wandelt, lässt sich durch einfaches Ursache-Wirkungs-Denken (z.B. die Gene oder die Erziehung) nicht angemessen beschreiben. Wie jemand ist und wie er wird, ist vielmehr das Resultat komplexer Wechselwirkungen mit der Umwelt.» Dabei spielen anscheinend auch die Erbanlagen eine wichtige Rolle. Sie bestimmen mit, in welche Richtung sich ein Mensch zu entfalten vermag und wie er auf Einflüsse von aussen reagiert. Die Gene beeinflussen unter anderem das Temperament eines Menschen, seinen Umgang mit Stress und seine Intelligenz. Die elterliche Erziehung und ihre Vorbildfunktion halten Experten inzwischen aber nicht mehr für den am stärksten prägenden Umweltfaktor.

Vier Geschwister aus dem gleichen Gen-Pool, aber jedes komplett verschieden vom anderen.
Wieso kann man Geschwister entweder lieben oder hassen? Sind sie irgendwie doch mit Koriander zu vergleichen?

Ich möchte noch eine Besonderheit ergänzen in meinem Leben: die Wahlverwandtschaft. Im Roman von Johann Wolfgang von Goethe aus dem Jahr 1809 endet die Geschichte tragisch. Mir hat die Wahlverwandschaft vier zusätzliche Geschwister beschert, die eigentlich eine Familie mit Eltern und zwei längst erwachsenen Kindern sind. Ich habe sie vor 28 Jahren kennen und lieben gelernt, als ich in ihre Mietwohnung nach Oberdorf gezogen bin. Das war quasi Liebe auf den ersten Blick mit einer ganzen Familie. Und weil ich vom Alter her zwischen den zwei Generationen liege, sind sie für mich nun einfach zusätzliche Brüder und Schwestern. Und gehören genauso zu mir wie meine richtige Familie. Was für ein Geschenk, so viele Geschwister zu haben
 
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