Texte
Ich suche Susannes Hand und greif ins Leere
Notizen eines verwitweten, alleinlebenden, alten Mannes
Thomas Schweizer
Smile, though your heart is aching
Smile, even though it`s breaking

If you smile, you`ll find that life is still worthwhile
If you just smile

Eine Geschichte erzählen. Es ist die Geschichte eines alleinlebenden alten Mannes, der zum Witwer geworden ist, erzählen über seinen Alltag, seine Gefühle, die Gefahr, seine Kontrolle über das Leben zu verlieren. Das Drehbuch schreiben «Tom allein zu Haus».
Des Nachts, wenn ich nicht schlafen kann, suche ich Susannes Hand und greif ins Leere. Traurigkeit umfasst mich. Ist die Leere nur neben mir oder auch im Kopf? Ich lebe allein, aber einsam bin ich nicht. Ich habe meine Kinder und Grosskinder, dazu eine Reihe treuer Freunde aus unterschiedlichen Bereichen. Sie sind mir kostbar. Sie sind mir unentbehrlich. Ich liebe sie alle. «Mein Herz sagt dennoch», zitiere ich Carl Spitteler. Ich darf mich nicht gehen lassen. Das wäre dem Leben und Susanne gegenüber nicht angemessen, unwürdig. Aber ich setze meine Schritte behutsam, schreite vorsichtig durchs zerbrechliche Dasein. Das Alter, wenn es lebenswert ist, hat seinen Preis. Ultimative Devise: Sich nicht gehen lassen. Nein, noch habe ich Lust auf Leben, Freude am Leben. Mein trauerndes Herz sagt dennoch.

Die Bestandesaufnahme ergibt das Bild eines erzwungenen Singles. Ich bin zum singulären Mann geworden, zum lonely cowboy, zum Solotänzer auf brüchigem Eis. Ich führe einen Single-Haushalt und bin jetzt allein für Haus und Garten zuständig. Ich war nie ein Hausmann, und ich bin längst nicht der einzige Single. Es ist nicht so, dass ich mich unbehaglich fühlte, der Alltag ein Desaster wäre, und ich mit dem Leben nicht zurechtkäme. Da war ich stets ein zu eigenständiger Mensch. Und leben heisst, lernen, neugierig bleiben, vorwärtsstreben wie auf der Rolltreppe, auf der ich nie stehen bleiben kann. Die Rolltreppe als Metapher für ein bewegtes Leben. 
                           *
Ich suche Susannes Hand und greif ins Leere. Susanne fehlt mir jeden Tag, immer und überall. Ich denke mir Susanne an meiner Seite, das tut gut, wenn ich allein im Theater, im Konzert, in einer Ausstellung bin. Wenn ich selber für Lesungen, Vorträge oder andere Kulturprojekte aktiv bin. Was mir hilft, ist das Schreiben. Aber Schreiben nicht als Selbstzweck, nicht als Überlebensstrategie. Ich schreibe jeden Tag, immer und überall. Ich recherchiere, reflektiere, kommuniziere, publiziere und organisiere eigene Anlässe. Ich schreibe, um mir im Getöse unserer lärmigen und unruhigen Zeit Gehör zu verschaffen. Ich hab noch etwas zu sagen, will mich weiter einmischen. Ein Lebenselixier wie in Donizettis Oper «L`elisir d`amore». Vor nicht langer Zeit hatten wir sie zusammen in der Scala gesehen. Die Sehnsucht nach dem Belpaese und nach Mailand, nach dem Ort, wo wir goldene Ringe getauscht und uns ewige Treue geschworen hatten, damals, im Sommer der ersten Mondlandung, 1969, eine heimliche Verlobung. Verrückt und Volare! Zwei junge Leute, übermütig und sorglos. Es bleiben Erinnerungen, die Ringe und die Melancholie. Dimmi, cos`è?

Auch für mich gilt Susannes Satz «Das Leben ist kein Wunschkonzert». Ich denke oft an diesen Satz einer starken Frau. Überhaupt hatte ich das Glück, dass mein Leben stets von starken Frauen begleitet und geprägt war. Sie erleuchteten mein Herz, wiesen mir die Richtung und gaben meinem kümmerlichen Dasein Sinn, Eleganz, Stil und Glamour. Mit Susanne an meiner Seite fühlte ich mich stets wichtiger, grösser und bedeutender als ich wirklich war. Wer uns nicht kannte, dachte wohl: Ei, der Alte mit seiner attraktiven, fröhlich lachenden Frau. Er muss etwas draufhaben, der Kerl. 

Hatte ich dieses Glück auch stets geschätzt? Hatte ich Susanne immer die gleiche Liebe entgegengebracht wie sie mich mit ihrer Liebe überschüttet hatte? Ein heikles Thema. Immerhin steht in meinem Buch «Boulevard Basel» unsere Liebes-geschichte. Sie sei die schönste der Schweiz, befand die Leserschaft der Wochen-zeitschrift «Schweizer Familie» per Online-Voting. Susanne mit ihrem bon sense ebnete mir den Weg. Mir als ruheloser, sich durchs Leben quälender Outsider. In der Ehe war ich oft fehlerhaft und ungerecht. Susanne ertrug meine Launen. Im Alter wurde es besser, dafür nahmen die körperlichen Gebresten zu. Leben im Alter ist ein Leben für Fortgeschrittene. Dazu brauche ich keine Ratgeber-Literatur.
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In der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, mich von einer Seite auf die andere wälze, suche ich Susannes Hand. Und greif ins Leere. Nächtlicher Alltag, Erinnerungen als Albtraum, Erwachen aus wilden Träumen vom Nicht-wahrhaben-wollen, was unwiederbringlich vorbei ist. Ich spüre ihren Leib nicht mehr und höre nicht mehr ihren Atem. «Put your head on my shoulder» höre ich aus weiter Ferne, gesungen von Scrooner Paul Anka, die Ohren umschmeichelnd. Auch Susanne hatte diesen Song geliebt. Jetzt weint meine Seele.
Ich stehe auf und gehe in den Garten. Die frische Nachtluft kühlt mein Gemüt und lindert meinen Schmerz. Später setzte ich mich an den Küchentisch und schreibe über mein verwundetes Herz. Allein sein und sich ohne Susanne durch den Dschungel des Daseins kämpfen: Das muss mir gelingen. Es ist die Ambivalenz, die es auszuhalten gilt, ein Schweben durch eine surreale Welt zwischen Lebensfreude, Mummenschanz und Totentanz.

Nur nicht schwermütig werden, kleinmütig werden. Nicht wie mein Vater, der an seiner Seele zerbrochen war. Es gilt die subtile Balance zu halten, nicht abzustürzen beim Kraftakt auf dem hohen Seil. Tagsüber, wenn ich nach Hause komme, ist niemand da, der mich mit einem Kuss empfängt, dem ich erzählen kann, was ich erlebt und wen ich getroffen hatte. Ich muss zu den Wänden sprechen. Manchmal schreie ich durchs Haus: «Susanne, wo bist du? Komm wieder zu mir. Komm zurück!». Wenn ich das Haus verlasse, höre ich Susannes Mahnung «Vergiss den Hut nicht!». Eine akustische Täuschung. Ich bin es selbst, der mir das zuruft.

Wenn keiner mit dir spricht, muss du mit dir selber sprechen. Getreu der alten Grossmutterweisheit «Wenn dich keiner lobt, musst du dich selber loben.» Wenn du deiner Frau keine Blumen mehr schenken kannst, musst du sie dir selber schenken. Wenn du von deiner Liebsten keine Liebe mehr bekommst, musst du dich selber lieben. Oder deine Familien lieben. Wenn du mit deiner Frau nicht mehr singen kannst, musst du selber singen. Wenn du mit ihr nicht mehr tanzen kannst, musst du mit dir selber tanzen. Hoppala, tritt nicht auf deine eigenen Füsse. Jetzt tanze ich so vor mich hin wie Goethe so vor sich ging, bis er das Blümchen fand.              
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Alleine tanzen in einer Gruppe mag gehen, sonst ist es eine mechanische, allenfalls sportliche Tätigkeit. Es fehlt die Sinnlichkeit. Es fehlt die Frau, die du führen willst und kannst. Hat nichts mit patriarchalischer Allüre zu tun. Auch Feministinnen, so meine Erfahrungen, schätzen den Monsieur distingué, den old-fashioned Gentleman. Tanzen: Noch einmal mit Susanne eine Nacht lang tanzen, den Wiener Walzer tanzen, den ich beherrsche wie keinen anderen Tanz, die Fledermaus-Quadrille tanzen mit anderen Ehepaaren auf dem Österreicher Ball, Tango, Cha-Cha-Cha, Twist und Rock`n`Roll. Gut, der tanzt sich nicht mehr so atemlos wie einst im Mai.

Musik: eingängige, manchmal volksliedhafte Melodien. Noch einmal Charles Trénet hören und singen «Que reste-t-il de nos amours?», noch einmal Jacques Brel «Ne me quitte pas», noch einmal die laszive Juliette Gréco erleben mit ihrer verführerischen Stimme in den verrauchten Caves von Montparnasse, mon Dieu.
Derlei Gedanken fliegen mir täglich tausendmal durch den Kopf, schwirrende Flipperkugeln, nie endend, ständig an Grenzen stossend, verstörende Geräusche.
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Und wie bewältigst du den Alltag, Alter, so ohne deine Frau? Nur keine Krise, kein Jammern. Das hilft mir nicht. Die Heiterkeit hilft, und der Humor hilft. Humor sei, geht die Saga, wenn man trotzdem lache. Jedenfalls hilft er mir, über die Stolpersteine des Alltags zu kommen. Hilft, eine sich anschleichende Rührseligkeit als lächerlich zu entlarven. Auch in der Zerbrechlichkeit des Alters und in Sichtweite deines eigenen Endes, den Humor nicht verlieren und jung im Herzen bleiben. Verzichten auf Anti-aging-Produkte, mit der die Werbe-Schwerindustrie uns alte Leutchen gern umgarnt. Ich gehöre zu den Best-Agers, wie mir immer wieder in Zeitungsbeilagen und Zeitschriften versichert wird. Mag für Jung-Rentnerinnen und Jung-Rentner stimmen, stimmte ja auch für mich. Aber Altern ist ein schleichender, unaufhaltsamer Prozess. Akzeptiere ihn und denke, dass das Leben kein Wunschkonzert sei. «Mich wundert, dass ich so fröhlich bin».

Es bleiben weitere Fragen: Wie ernährst du dich? Unterschiedlich. Kochst du selber? Gelegentlich. Ich muss nicht der Haute-Cuisine nacheifern. Ich lebe bescheiden, brauche nicht viel, nur in der Welt der Kunst und Kultur lebe ich verschwenderisch. Und den Haushalt? Die banalen täglichen Arbeiten? Brauche ich eine neue Bratpfanne? Habe ich vielleicht den Puderzucker mit dem Waschpulver verwechselt? Bringe ich die Herdplatten mit einer stacheligen Kratzbürste sauber? Wie koche ich einen Risotto? Macht es Spass, den Burgunder allein zu trinken? Versalze ich nicht ständig die Suppe? Wie ziehe ich das Bett neu an? Wie putze ich Fenster, Böden und die Badzimmer? Wie giesse ich die Pflanzen so, dass sie vor lauter Nässe nicht verfaulen? Ich brauche eine Haushalthilfe. Ein lieber Freund will mich ins Altersturnen schleppen. Was soll ich dort? Ich hab` im Haus Fitness genug. Tausendmal täglich Trepp auf, Trepp ab und am Handlauf halten, gäll. Das Leben ist immer lebensgefährlich, schrieb Erich Kästner, ich füge hinzu: «besonders im Alter, denn alles ist volatil.»              
Nur Literatur und Kunst bleiben konstant, ist Lebenskunst für mich als «Lebensschaftler». Nanu, was ist denn das? Eine Mischung zwischen Lebenskünstler und Wissenschaftler. Tönt nach Hochstapler. «Nein», hätte Susanne, die starke und selbstbewusste Frau, gesagt. Lebensschaftler: Das passt doch.
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Ein Dialog, der meiner Fantasie entsprungen ist.
«Ihr führtet also die ideale Ehe?»
«Sicher, sie war nie frei von Streit und Konflikten. Wir waren nicht Paola und Kurt Felix».
«Beneidenswert. Jetzt haben Sie die grosse Freiheit.»
«Es ist eine trügerische, heimtückische Freiheit.»
«Treffen Sie wieder eine Frau, mit der Sie tanzen, singen und quasseln können.»
«Eine Beleidigung für Susanne. Sie bleibt unerreicht.»
«Besuchen Sie eine Dating-Plattform.»
«Ich besuche einen Biergarten.»
«Nutzen Sie die Zeit, die Ihnen bleibt. Und vielleicht ist da noch mehr.»
«Wie meinen Sie das? Ich bin für alles zu alt.»
«Sie? Sie sind noch blendend im Schuss.»
«I-c-h  b-i-n  z-u  a-l- t.»
«Dummes Zeug, man ist nie zu alt um…»
«Was wissen denn Sie, wie Leben geht, Sie Küchenpsychologe.»
«Ich bitte Sie.»
«Ich bitte Sie.»

So geht das weiter bis zum letzten Wort. Wem soll es gehören? An dieser Frage sind schon Ehen in die Brüche gegangen. Und bei uns? Ich überliess das letzte Wort meist Susanne. Weise, und nicht feige. Nachgeben und nicht beharren. Bin ich mir der Wahrheit gewiss? Der Mensch irrt, so lang er lebt. Nur der Tod ist kein Irrtum, eine seltene Gewissheit. Und ein Skandal.
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Ich suche Susannes Hand und greif ins Leere. Ich erlebe den Zauber ihrer Persönlichkeit nicht mehr. Dimmi, cos`è? Put your head on my shoulder. Das Grauen hockt schon draussen vor dem Fenstersims und wartet gespenstig in der Nacht. Was soll meine Seele noch erhellen? Ich schreibe und rede, erzähle eine Geschichte, die Geschichte vom Ende einer ehelichen Zweisamkeit, vom Alleinsein, von der befristeten Zeit unseres Daseins, von der Zerbrechlichkeit des Glücks, vom «unverzaget mannesmuot», wie Wolfram von Eschbach Parzival auf der Suche nach dem Gral beschrieben hatte.

Schreiben, reden, erzählen. Doch vielleicht bin ich ganz bei Susanne und bei mir, erst, wenn ich schweige.
 
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