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Lange Nächte
Esther Maag
Es wird eine lange Nacht werden, eine sehr lange Nacht, die bis in den Morgen hinein dauern wird und der Morgen wird spät kommen, denn es wird eine Nacht in der dunkeln Jahreszeit sein, in der Zeit der langen Nächte. Ab Zürich HB werden wir die S11 oder S12 bis Schlieren nehmen, Reisezeit 9 min; fährt alle 15 min, danach den Fussweg ab Bahnhof Schlieren, 10min.

Schlieren, der Inbegriff von Agglo, nur noch übertroffen von Schwamedingen oder vielleicht von Altstätten. Wobei Altstätten wäre ja noch schön, eine alte Stätte, ein alter Ort, ein Ort an dem man sich in grauen Vorzeiten versammelt hat, geheimnisvoll getroffen hat, aber nein, es wird nicht in Altstätten sein, sondern in Schlieren. Schlieren sind eher etwas Unappetitliches, etwas Gruusiges, etwas das man sauber machen müsste, etwas das man tendenziell eher weghaben und wegmachen will und doch werden wir genau dorthin fahren wollen, nach Schlieren und zwar mit der S11 oder der S12. Fragen Sie die sbb-App nach den genauen Fahrzeiten. Wir könnten, heisst es da, auch die Westumfahrung Zürich, Autobahnausfahrt Urdorf Nord, nehmen und dann ins GPS eingeben Ueberlandstrasse, 8952 Schlieren, aber das werden wir nicht machen, sondern wir werden wie gesagt die S11 oder die S12 nehmen.

Und wenn wir dann in Schlieren angekommen sein werden, werden wir damit beschäftigt sein, die Halle Unterrohr zu finden im Aussenbezirk der nächtlichen Agglogemeinde, die dunkel sein wird oder allenfalls spärlich beleuchtet. Deshalb wird es vielleicht gar nicht so einfach sein, in Schlieren angekommen zu sein, denn da müssen wir die S11 oder die S12 – wir wissen noch nicht genau, welche wir letztendlich nehmen werden – verlassen und dann beginnt die Suche nach der Halle Unterrohr.

Wenn wir die Halle Unterrohr dann gefunden haben werden, werden wir erleichtert sein über Licht, Lärm und Wärme. Vielleicht wird es dort aber auch ganz still sein, weil allen etwas bang sein wird, aber in jedem Fall wird es dort etwas wärmer sein als auf dem Bahnhof Schlieren, wofür wir dankbar sein werden, da wir nicht adäquat, dem Wetter entsprechend angezogen sein werden. Wir werden nämlich aller Voraussicht nach zu kalt angezogen sein, was zwar durchaus Absicht, aber nichtsdestotrotz nicht passend sein wird.

Es kann aber auch durchaus sein, dass wir zu heiss haben werden. Denn wir werden eine weite Hose über einer engen Hose tragen, einen Mantel über einer Jacke, eine Jacke über einem Gilet, ein Gilet über einem langärmeligen Shirt, ein langärmliges Shirt über einem Trägershirt. Denn wir werden nicht wissen, wieviel wir letztlich wirklich tragen wollen und wieviel wir ausziehen sollen. Es wird nicht so sehr die Frage sein, was angemessen sein wird, sondern eher was adäquat sein wird und das wiederum ist nie so leicht zu bestimmen und wird von verschiedenen Faktoren abhängig sein.

Allenfalls wird uns auch warm sein, weil wir nervös sein werden, doch genauso gut könnte uns aus dem gleichen Grund auch kalt sein. Es ist wirklich nicht einfach abzuschätzen, wie es wärmetechnisch sein wird. Denn dies wird zusätzlich davon abhängen, was wir gegessen haben werden. Was wir gegessen haben werden, ist ebenso wichtig, wie welche Kleidung wir gewählt haben werden und gleichzeitig sind sowohl Essen wie auch Kleidung nur schwer zu bestimmende Faktoren. Sollen wir kalorienreich oder nur leicht gegessen haben, warm oder kalt, lang oder kurz vorher und wieviel davon? Pasta oder Müsli oder doch nur ein Riegel? Am liebsten ein volles Menu oder eher gar nichts? Die Frage wird uns beschäftigen noch bevor wir auch nur in die S-Bahn gestiegen sein werden, denn das kann sich alles als matchbestimmende Faktoren auswirken.

Wenn wir dann endlich in Schlieren in der Halle Unterrohr angekommen sein werden, werden wir von einem Rahmenprogramm empfangen werden. Das wird um 19 Uhr starten und bis um 05 Uhr dauern. Das ist ziemlich lange. 9 Stunden Rahmenprogramm, mehr als ein voller Arbeitstag, wobei man korrekterweise von einer Arbeitsnacht sprechen muss. Wie wir uns in das Rahmenprogramm einfügen werden, wissen wir noch nicht, das heisst, ob wir aktiv daran teilnehmen oder es nur als Hintergrundprogramm zur Kenntnis nehmen werden.

Jedenfalls werden ein Speaker, ein DJ und dezente Lichtinstallationen für Stimmung und Unterhaltung sorgen. So ist es jedenfalls in der Ankündigung angekündigt. Der Speaker und der DJ brauchen ganz schön Durchhaltevermögen in ihrer Neunstundennachtschicht. Das allerdings werden wir auch brauchen, jedenfalls bezogen auf das Kernprogramm, dessentwegen wir ja gekommen sind und dessentwegen wir uns vermutlich dafür entscheiden werden, das Rahmenprogramm vorerst links liegen zu lassen und uns ganz auf das Kernprogramm zu konzentrieren und uns erst später auf das Rahmenprogramms einzulassen, denn die angekündigte dezenten Lichtinstallationen möchten wir uns schon nicht entgehen lassen.

Doch vorerst werden wir mit Kleidern, Uhren und Schuhen beschäftigt sein. Wieviel wovon und wie weit. Wir werden denken, dass das eine entscheidende Rolle spielen wird, realiter wird es aber sekundär sein. Matchentscheidend wird viel mehr sein, wie gut wir uns vorbereitet haben werden und da wird das «wieviel, wovon und wie weit» sehr wohl von elementarer Bedeutung sein. Denn es geht um viel, um sehr viel, es geht um nichts weniger als den Jahres-Weltrekord. Ja, Sie haben richtig gehört: In dieser Nacht wird es um den Jahres-Weltrekord, nein, was sage ich: um Jahres-WeltrekordE gehen. Ja, richtig, Weltrekorde in der Mehrzahl. Und das in Schlieren in der Schweiz!

Und wir sind mit dabei, voll bei der Spitze mit dabei, mitten in der Meute, mitten in der Elite, Ellbogen an Ellbogen. Und selbst wenn ich nicht selber Weltrekord laufen werden, werde ich wissen, dass ich Ellbogen an Ellbogen mit den künftigen Weltrekordträgern gestanden haben werde. Deswegen werden wir alle alles geben, voll am Limit laufen und wir werden echte, reale Chancen haben, Marathon- oder Halbmarathon-Jahres-Weltmeister zu werden.

Deshalb werden wir die 42 oder die 21 Kilometer in Rekordtempo laufen. Alle am Start werden dies tun und alle haben in ihrer Kategorie die reelle Chance, Jahresweltbeste oder Jahresweltbester zu werden. Ich muss einfach die schnellste in meiner Alterskategorie werden und ich werde Jahresweltbestzeit haben – objektiv gemessen von Data-Sport – unbestritten, unangefochten – jedenfalls für ein paar Stunden. Das ist machbar, das ist fair, denn nichts wird uns hindern zu siegen am Lauf der Läufe, am weltweit ersten Lauf des neuen Jahres, der um Null Uhr Null Null am 1.1.22 startet.

Ups, das ist in 10 Tagen – das wird eine lange Nacht werden…
 
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