Lyrische Texte: Paare/Dualismus
Thomas Schneider
22. Februar 2022
ENDE JANUAR
Auf Wiesen und Totholz liegt noch Reif
und auf erkalteten Feuerstellen
Die Erdkruste räkelt sich träge und steif
Übern Acker laufen gefrorene Wellen
der im Herbst gepflügten Schollen
Im Stamm einer Eiche im Buchenschaft
steigt zu den Trieben schon nährender Saft
Nun in der Krone zwei Eichhörnchen tollen
zeigen die Zweige beschwingt nach oben
Die Morgensonn möcht auch der Bussard loben
Sein Schrei schneidet schrill und hart
ins Mark - die Feldmaus im Bau erstarrt
FAST EIN DUELL (ZWEI POLITIKER)
Ein betagter Cowboy, dem Tod schon ähnlich, stolpert zur Tür herein, die silbernen Sporen an seinen Stiefelabsätzen klirren. Über den bleichen Rippen trägt er ein fadenscheiniges schwarzes Hemd, während die Hosen um nackte Kniescheiben schlottern.
Er ist dermassen müde, und die Finger der rechten Hand sind so steif, dass er aus Unachtsamkeit und Schwäche den Colt mit dem Kolben aus Elfenbein fallen lässt. Vom Aufprall auf dem Holzfussboden des halbleeren Saloons dröhnt es umso lauter.
Auf eine roh gezimmerte Eckbank an der Schwelle zum Hinterzimmer hat sich ein anderer, noch älterer Kerl hingefläzt, dem Tod wie aus dem Gesicht geschnitten. Er grinst beinahe verständnisvoll beim Anblick dieses Missgeschicks.
Er verbirgt seine Hände unter dem Tisch, steckt aber den vorher vorsichtshalber zwischen Tischplatte und Oberschenkel geklemmten Revolver wieder ins Halfter.
Bei einer Schiesserei würden höchstens Knochen splittern, steht in grossen Lettern auf einer Tafel hinter der Bar, in ein Brett aus Tannenholz eingebrannt.
Der erste muss sich mehrmals bücken, bis er endlich den Revolver am Boden zu fassen kriegt, und zeigt dabei dem zweiten einige Sekunden lang seine verletzliche Flanke, ungestraft.
Sie begrüssen sich mit einem knappen Kopfnicken, bevor sie die schwerfälligen Beine gleichzeitig zur Bar schieben. Die Gläser schlagen beim Anstossen gegeneinander, mit einem Ton so hell, als schlüge ein Glöcklein im Turm einer Missionskirche an.
Der Whiskey der Versöhnung rinnt dann beiden aus dem offenen Brustkorb aufs Zink des Tresens, netzt das schwarze Hemd hier, die rote Weste des Erfahreneren dort. Die dunklen Flecken im Baumwollstoff breiten sich über Brust und Bauch aus.
Mit der Rechten greift der Greis nochmals nach dem Glas, mit der Linken, nur um sich irgendwo festzuhalten, umklammert er das Hornheft des Dolches im Futteral.
Das Büffelhorn klebt kalt und spröde in den verkrampften Fingern.
Zum Schmecken und Kosten des Schwarzgebrannten vermisst der Cowboy die Zunge im Mund.
ANTABUS
Schweigen - oft lieblose Stille
Auch Stille ist nur ein Wort
Wie eine Antabuspille
spült der Rhein sie fort
In die Wellen geworfen
hat sie herrlich geschäumt
Mich hältst du für verworfen
Wir haben uns versäumt
Die Zeit zerrann am Schnürchen
Das Kursboot legt' mit dir ab
Du kämst durchs Hintertürchen
erst wieder an mein Grab
sagtest du falls ich das Saufen
dies Mal nicht wirklich lasse
Was sonst soll ich mir kaufen
wenn ich nichts verprasse
IM KANDERTAL, ENDE JANUAR
Der Rest Eis auf dem Wasser
schimmert schon blasser
Übern Gänseweiher
fliegt ein Silberreiher
Niemals setzten sie sich
gesellig zueinander
Am Horizont ein Wolkenstrich
Unterm Eis murmelt die Kander
BEIDSEITIG UND FREIHÄNDIG
Er ist gewiss nicht der erste, der die Erfahrung gemacht hat, dass er sich in einer bestimmten Körperposition verpuppt, vor allem, wenn er zusammengerollt auf der Seite liegt. Die Seidenfäden des himmelblauen Schlafanzugs umhüllen ihn hauchfein, eigenartigerweise ohne ihn einzuschnüren. Das Netz lässt ihm alle Bewegungsfreiheiten. Er hat endlich herausgefunden, dass er in dieser Lage beidseitig und freihändig schlafen und die Träume dirigieren kann, und gesteht sich ein, dass er solche Freiheiten wahrscheinlich seit je genossen hat.
Die nautische Dämmerung. Die Sterne wären auf See am Ende der Nacht noch sichtbar, um nach ihnen den Kurs der Schiffe auszurichten. Gilt das an Land auch für Schmetterlinge und Vögel beim Erwachen, wenn die ersten Sonnenstrahlen am Gefieder zupfen?
Aber wer hat so früh das Radio eingeschaltet? Wegen des Blues, den der Jazzsender spielt, eines überhängenden Stücks Mitternacht, müssen sich die Schmetterlingsflügel, schon einen Augenblick bevor er ausgeschlüpft ist und die Decke zurückgeschlagen hat, blau verfärbt haben. Eher tappt er als dass er flöge, eine Hand am Geländer, die Treppe ins Erdgeschoss hinunter. Willkommen Bläuling, Lieblingssommervogel, lacht ihn die Freundin beim Morgenkaffee unter blauen Lidschatten hervor an und kredenzt ihm ein Schälchen Wildblumenhonig. Blütenwild. Er streckt vorsichtig die Fühler aus.
GRAUE SEIDE - für Hedwig
Gekleidet in glänzende graue Seide
mit weissem Haar
tanzen wir beide
ein lebensfrohes Paar
durch den lichten Herbstwald
Wir sind weder jung noch alt
An den scheinbar toten Zweigen
mögen sich übers Jahr
wieder Knospen zeigen
Laut raschelt das Laub
Meine Füsse sind taub
wenn sie an Steine
stossen - doch unsere Beine
setzen an zum Sprung
übern Graben der Ernüchterung
Wir tanzen den Walzer weiter
über dieses Leben hinaus heiter
Auf der elliptischen Bahn der Venus
schenkst du mir einen Kuss
oder ein Lächeln im Freundeskreis
wer weiss
CRISTO REDENTOR - für Evaristo Oliveira de Souza
Auf dem Corcovado
bekränzt sich
die Betonstatue
des Erlösers
mit dem Wendekreis
des Steinbocks
1931 errichtet
wurde sie
aus einzelnen Blöcken
zusammengefügt
zehn Jahre
vor deiner Geburt
Die gegossenen Glieder
wurden von Frankreich
aus verschifft
jeder mächtige Block
auf einem eigenen
Frachter
wie einst
auf Caravellen
die viel leichteren
Elemente der Sprache
die du sorgfältig
neu zusammengesetzt
und unterrichtet hast
- ein Leben lang -
- ein Leben lang -
eine Hand an der Balustrade
der Wörter
die andere am Geländer
des Glaubens
bist du öfter
die schier unendlich
lange Treppe zum
Cristo hochgestiegen
mit der Aussicht
auf die glitzernden Wasser
der Bucht von Guanabara
und die unerlöste
Stadt
LICHTSMOG ÜBER METZ
Im Lichtkegel der Küchenlampe auf dem Balkon
webt die Spinne am Geländer ein hauchfeines Netz
Zu hören ist nur ein einziger Ton
das Regenrauschen über dem nächtlichen Metz
Die Bäume im Garten stehen begossen und schwarz
gezeichnet gegen die Kuppel aus Licht
Der Schimmer über der Stadt zäh wie Harz
zieht die Grenze gegen den Himmel dicht
Von der Dachtraufe tropft es in einen Kessel
Jetzt hält der Weber beim Spinnspulen inne
Ein Schlafloser sinkt tiefer in seinen Sessel
Auge in Auge mit der Hauswinkelspinne