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Dualismus z.B. = ein Mann zwischen hier und dort
Irène Merz-Jenny
Wie jeden Morgen setzt sie sich auf den Balkon, begleitet von einer Tasse herrlich duftendem Kaffee. Wie jeden Morgen fällt ihr Blick auf das Vogelnest, welches sie als Erinnerung an ein Amselpaar hütet, das sich im vergangenen Frühjahr auf ein neues Familienleben freute und sich ihren Balkon als Brutstätte für eine kommende Kinderschar erwählte. Ob Eiseskälte oder Sonnenschein, es ist das morgendliche Verweilen an der frischen Luft ihr zum Bedürfnis geworden.

Seit ihr langjähriger Freund, vor wenigen Wochen, für immer eingeschlafen ist, hat ihr Verweilen auf der Terrasse, den Blick gen Himmel gerichtet, eine neue Dimension erhalten. Es ist dies keine Frage eines religiösen Bedürfnisses, das weder ihm entsprochen hätte, noch ihr entspricht. Eingewickelt in ein warmes Tuch, sitzt die Frau auch bei Dunkelheit auf ihrem Balkon, zählt die Sterne und fragt mit leiser Stimme den Verstorbenen: «Bist Du «Libuscha» begegnet, bist Du nun bei ihr?»
Es ist dieser Name die Erinnerung an eine kleine Geschichte, die der Heimwehkranke, heute, in seiner «alten» Heimat ein bekannter Dichter, ihr vor Jahren zu lesen gab. Der Frau gefiel das zärtlich, feinfühlig geschriebene Märchen, doch sie nahm sich nicht die Zeit, sich in die sagenumwobene Bedeutung von «Libuscha» zu vertiefen; heimlich hinderte sie eine kleine Eifersucht; die stille Frage: «Gehören die feinen Worte nur der Sagengestalt?»

Die Zeit findet sie jetzt, wo Sehnsucht, nach vergangenen schönen Stunden, genügend Raum lässt, sich an die besonderen, historischen Stadtführungen ihres Freundes zu erinnern. Jeder Spaziergang durch Prag, war ein Spaziergang durch die Jahrhunderte, in fast jedem seiner Gedichte, in jeder seiner Geschichten lebt ein Stück Vergangenheit. Vergangenheit waren für den Mann auch seine Jugendjahre. Eine Kindheit in Angst und Schrecken vor den gestiefelten Herren des «Dritten Reiches», überschäumende Jugendjahre, die der Student der Soziologie und Kunstgeschichte aus vollen Zügen genoss und in dieser Zeit voller Tatendrang ein eigenes, kleines Sprechtheater gründete, für welches auch Vaclav Havel Texte schrieb. Und dann, dann standen die russischen Panzer in den Strassen seiner geliebten Stadt. Man suchte nach dem Schreiberling, der Schreiberling musste fliehen.

Die Gedanken an «Libuscha» packte er in seine kleine Reisetasche. «Libuscha», beinah ein göttliches Wesen für alle, die sie in ihr Herz geschlossen haben. Der Name «Liuba» bedeutete im altslawischen «Die Liebe – Die Liebevolle», wandelte sich in der tschechischen Sprache zu »Libuse» und war der Name einer mythischen Königin und Wahrsagerin von Böhmen, Stammmutter der Premysliden-Dynastie, die bis 1306, beinah vierhundert Jahre lang, das Volk der Tschechen regierte. Das damals, um das Jahr 900, noch heidnische Volk, erbaute auf Rat von «Libuscha» die Prager Burg, welch ein Juwel!

Es ist ein eisigkalter Samstagmorgen, nur zaghaft durchbrechen Sonnenstrahlen das ewige Grau der vergangenen Tage. Die Frau sitzt erneut auf dem Balkon, eine Zigarette hilft, Gedanken zu bündeln. Es herrscht eine gespenstige Stille, denn noch immer verhindert hier wie anderswo, die Plage Corona ein geschäftigeres Leben.

Die Gedanken der Frau kehren in ihre Heimat zurück. Auf dem «Burghügel» ihrer Stadt steht das romanisch-gotische Münster, viel könnte sie darüber erzählen. Zu Füssen des Hügels, der Pfalz, fliesst nicht die viel besungene Moldau, es fliesst der gestrenge Vater Rhein, der mit einem Kniefall die Stadt begrüsst. Um das Jahr 900 – zu «Libuschas» Zeiten - entstand auch hier das erste Gotteshaus, klein aber fein. Der christliche Glaube erstrahlte hier in einer Innigkeit, die nur hundert Jahre später den Ottonischen Kaiser Heinrich II bewog, den Prachtbau einer romanischen Basilika in Auftrag zu geben. Könnte seine fromme Gattin Kunigunde, vom Volk geliebt und verehrt, analog «Libuscha», in vorreformatorischer Zeit, auch in ihrer Stadt eine Lichtgestalt gewesen sein?

In der stattlichen Bibliothek ihres Freundes stand eingemittet der Heilige Wenzel. Wenzelslaus von Böhmen war ein adliger Ritter und Zeitgenosse von «Libuscha». Der erste seines Stammes, dem seine Grossmutter Ludmilla half, den neuen Glauben zu verstehen. Er bekehrte, um das Jahr 900, das noch heidnische Volk zum Christentum. Am steil abfallenden Gelände der Prager Burg, liess Wenzel das erste Prager Kirchlein bauen, eine Rotonde aus noch vorromanischer Zeit. «Libuschas» Burg und Wenzels Kirchlein; die Verehrung, die den Beiden das tschechische Volk entgegenbringt, strahlt bis heute weit über die Lande. In voller Grösse steht Wenzel Mitten auf der Karlsbrücke, der Brücke aller Brücken und der grösste Prager-Platz trägt seinen Namen.
Heute steht der Heilige, eine antike Holzstatue, der bis vor wenigen Wochen die Bücherwand ihres Freundes schmückte, in ihrem Schlafzimmer und bewacht ihre Träume.

Was wäre das Leben ohne Erinnerungen. Dankbar flüstert die Frau mit zärtlicher Stimme ins Dunkel der Nacht: «Libuscha» auch ich grüsse Dich von ganzem Herzen.»

                                Prag
                          Über die Karlsbrücke
                          die noch ältere Gottheit:
                              Der Vollmond.      

                                
 
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