Texte
Socken stopfen
Benedikt Meyer
Guten Abend! Ich muss mich zuerst einmal leider entschuldigen: Das mit dem Schreiben hat dieses Mal leider nicht so richtig geklappt. Denn ich hatte es mir gerade in meinem Schaukelstuhl bequem gemacht, war vor- und zurückgewippt und dieses leichte Schütteln, das hilft mir oft dabei, meine Gedanken zu ordnen. Nur: Dann schlug ich unvorsichtigerweise mein rechtes Beim übers linke Knie. Und damit fiel mein Blick auf meinen rechten Fuss. Genauer: die Socke daran. Noch genauer: Das Loch darin.
So ging das natürlich nicht. Mit solchen Socken konnte ich unmöglich nach Bubendorf. «Mist!» schimpfte ich vor mich hin. «Und das ausgerechnet jetzt, wo ich etwas über Nachhaltigkeit schreiben soll. Das gibt doch einen totales Wärmeleck. Damit erfüllt meine Kleindung doch keinerlei Energiestandards mehr!» Wegwerfen konnte ich die Socken allerdings auch nicht. Und blöderweise nimmt heute nicht mal mehr die Altkleidersammlung kaputte Socken mit. Wie die zu Socken kommt, ist mir eh ein Rätsel. Löchrige sind ihnen zu schleckt, noch gute behalte ich lieber für mich.

Früher, sinnierte ich, früher war vielleicht nicht ganz alles besser, aber das Altsockengeschäft war definitiv schlauer organisiert! Früher, da hätte der Lumpensammler meine Socken geholt – löchrige Löcher inklusive. Er hätte sie nicht als Abfall betrachtet, sondern als Rohstoff. Er hätte sie in der nächsten Papiermühle den dortigen Müllern verkauft und die hätten meine Socken zerkleinert, verstampft, verkocht und den Stoffbrei mit Zellulose vermischt. Die Socken-Fasern hätten das Papier stärker, kräftiger, langlebiger gemacht. Und vielleicht, vielleicht wären ein oder zwei Moleküle meines Fussschweisses in die nächste Bibel eingeflossen, ins nächste Pamphlet, den nächsten Liebesbrief oder das nächste Manuskript.
Ich hätte hiersitzen und meinen Text über meine alten Socken von meinen alten Socken ablesen können. Und ich wäre in bester Gesellschaft gewesen: Goethe, Shakespeare, Montesquieu: Weltliteratur wurde auf Papier mit hohem rezykliertem Stoffanteil geschrieben. Der einzige, dem das allerdings rein überhaupt nichts brachte, war der Lumpensammler. Der arme Kerl war als «Haderlump» geächtet, wurde in der Schweiz ein «Hudilump» gescholten, wobei der «Hudi», der «Hudu» ja selbst wieder ein Lappen ist. Ein «Hudilump» ist also ein «Lumpenlump», wobei ich persönlich den Begriff ja ehrlich gesagt weniger auf zerlumpte Recyclingunternehmer anwenden würde, als beispielsweise vielmehr auf jemanden, der seine Kollegen verrät für ein paar Treicheleinheiten. – Aber ich schweife ab. Das kommt davon, wenn man zu viel schaukelstuhlschaukelt. Da fliegen einem die Gedanken davon.

Mit einem «Ping!» meldete sich mein Smartphone. «Für einen lumpigen Lappen im Jahr können Sie nie mehr löchrige Socken haben. Bestellen Sie jetzt ein Sockenabo auf Sockenabo.ch! Ob in «Organic Comfort», «Business Light», «Shorty Sneaker» oder «Merino»: Werden Sie Ihre Sockensorgen ein für allemal los.» - Ich las die AGBs von A bis Z. Doch was mit den alten, kaputten Socken geschehen sollte, fand ich auch hier nicht. - Es war wieder mal typisch: Egal welches Problem man hatte, stets war sofort jemand zur Stelle, der behauptete, die Lösung läge in mehr Konsum.

Ratlosigkeit machte sich breit. Vor meinen Augen gähnte das Nichts und um dieses Nichts spannten sich die Überreste meiner Fussbekleidung. Horror Vacui. Wie sollte ich da einen vernünftigen Text über Nachhaltigkeit schreiben?
Nachhaltigkeit, Nachhaltigkeit … ich wippte zurück und wippte nach vorn. War Nachhaltigkeit nun eigentlich links oder rechts? Fortschrittlich oder konservativ? Und warum dachten so viele Leute, dass das eine das andere ausschloss? Mein Schaukelstuhl knarrte bedächtig. Der Mann, der als erster von Nachhaltigkeit sprach, war jedenfalls kein eurythmiegebildeter, permakultivierender, selbstversorgender Gemüsegärtner, sondern ein Buchhalter mit derselben Frisur, wie Louis XIV.

Hans Carl von Clausewitz, Kameralist, Kammer- und Bergrat. Und unter der Perücke ein gewitzter Kopf. Da er sein Gut nach örtlichem Recht nicht an seine Töchter vererben konnte, verkaufte er es ihnen einfach. Welche Socken er trug, weiss ich allerdings bis heute nicht. Ganz sicher aber kippte er regelmässig aus diesen, wenn er sich den damaligen Zustand der Wälder ansah. Sie wurden zu Clausewitz’ Zeit nämlich überall gerodet und geplündert.
«Wird derhalben die gröste Kunst / Wissenschafft / Fleiß / und Einrichtung hiesiger Lande darinnen beruhen» schrieb er «wie eine sothane Conservation und Anbau des Holtzes anzustellen / daß es eine continuirliche beständige und nachhaltende Nutzung gebe / weiln es eine unentberliche Sache ist / ohne welche das Land in seinem Esse nicht bleiben mag.»

Oder übersetzt: «Es wird deshalb die grösste Herausforderung die sein, Erhalt und Anbau des Holzes so anzugehen, dass es eine beständige, nachhaltige Nutzung ergibt, weil es eine unentbehrliche Sache ist, ohne die das Land nicht überleben kann». Die Lösung, die er anbot, war ziemlich simpel. Man durfte nicht mehr Holz ernten, als nachwuchs - oder für die Banker unter uns: «Man muss lernen, von den Zinsen zu leben und nicht vom Kapital».
Noch heute übrigens sieht man den Raubbau von damals auf jeder Landkarte: Alle paar hundert Meter eine Schwand, eine Schwende, ein Schwändi, eine Reute, ein Grüt, ein Rütli oder ein Schachen. Rodungsnamen: Narben verschwundener Wälder.

Nicht verschwunden, war einzig mein Loch. Wobei mich die Frage, ob ein Loch überhaupt «da» sein kann oder sich nicht vielmehr durchs Nichtdasein definiert, um ein Haar in philosophische Abgründe gerissen hätte. Aber nach Philosophie war mir schon lange nicht mehr zumute: Ich haderte! Warum musste ausgerechnet ich ausgerechnet jetzt ein Loch haben? Wie viele Socken wuchsen natürlicherweise jedes Jahr nach? Und musste ich nun tatsächlich selbst zur Nadel greifen?
Ärgerlich wippte ich vor und zurück (was nebenbei bemerkt kein Leichtes ist: man kann nur sehr schwer ärgerlich schaukelstuhlschaukeln).

«Kann das denn kein anderer für mich erledigen?» murmelte ich genervt. «Schliesslich kann es der Umwelt ja egal sein, ob nun meine Socken gestopft werden oder die von jemandem in der dritten Welt! Gibt es denn da keinen Handel mit Verschleissungsrechten? Keine Wiederaufstopfungsprogramme irgendwo in Nicaragua, die ich mit ein paar Rappen unterstützen und mich so von der Pflicht befreien kann, selbst etwas zu tun? Wo ist denn diese unsichtbare Hand des Marktes, wenn man sie mal braucht?»
Ich überlegte mir kurz, die alte Frau Hungerbühler aus dem vierten Stock zu fragen. Aber die Hungerbühler hat eine Rente und ein Generalabo oder anders gesagt: Sie hat besseres zu tun, als sich um meine Löcher zu kümmern.

Ich kam nicht voran: auf jedes Vor folgte unweigerlich ein Zurück (was nicht nur am Schaukelstuhl lag). Ich lehnte mich nach hinten, so weit es ging, da fiel mein Blick plötzlich aufs Bücherregal. Genauer: Auf ein griechisches Theaterstück. Ich schnellte nach vorn und griff zum Handy, denn jetzt hatte ich eine Idee!
Wenn Euripides, Sophokles oder einem anderen Autor nichts mehr einfiel, griff er zum Deus Ex Machina: zum Gott aus der Maschine. Der trat dann mit viel Rauch und Spezialeffekten aus einer verborgenen Luke oder über einen Kran auf die Bühne und brachte die Handlung wieder voran. Meine Maschine hiess Youtube. Und meine Göttin Rosi.

Wie der Name schon sagt, war Rosi ziemlich genau 85 Jahre alt und sprach bayrisch. Rosi zeigte im Internet, wie man Socken stopft. Und das in 5 Minuten. Kurzentschlossen stürmte ich nach oben zur Hungerbühler, lieh mir Nadel und Faden und machte mich ans Werk. Wenig später war ich fertig. Zwar hatte ich mich ein, zwei Mal in den Finger gepikst und so hübsch wie bei Rosi sah es auch nicht aus – aber das Handwerk hatte mich mit der Welt versöhnt. Und es war mehr als das: Rosi konnte alles! Nicht dass es so hübsch herausgekommen wäre, wie bei Rosi, aber ich war zufrieden. Das Handwerk hatte mich mit der Welt versöhnt. Und es war mehr als das. Rosi konnte alles. Früchte haltbarmachen ohne Zusatzstoffe, Kleider flicken, Flecken entfernen, Nose-to-Tail-kochen … 
Schlagartig wurde mir klar, dass Rosi die Lösung war. Und zwar für alles! Wir alle brauchten eine witzig-liebevoll-burschikose Oma mit einem Sinn fürs Praktische. Nur musste sie in der Schweiz natürlich Vroni heissen oder Hildy oder Elsi oder Rösi. Und sie brauchte eine Sendung im Fernsehen, auf Youtube, Tiktok, Instagram, ach was sage ich: Auf den Riesenbildschirmen der Bahnhöfe!

Denn wenn so ein altes Vroni-Hildi-Elsi vom Land urbane junge Männer wie mich erreichten und nachhaltigkeitsmässig auf den Stand von heute, bzw. morgen, bzw. vorgestern bringen konnte, dann konnte sie auch noch wesentlich mehr. Dann stopfte sie nämlich nicht nur Socken sondern so ganz nebenbei auch gleich noch den Stadt-Land-Graben, den Generationengraben und den Geschlechtergraben. Ja sogar der Impfgraben war für eine alte Frau mit einer Nadel wohl kein ernsthafter Gegner!

Die Erkenntnis durchzuckte mich, wie ein Schlag: Wenn uns noch irgendjemand mit all unseren Krisen helfen konnte, dann eine Grossmutter. Ich zog mir die gestopften Socken über die Füsse, stolperte aus dem Schaukelstuhl und stürmte ins Treppenhaus. «Frau Hungerbühler!» rief ich, während ich aufwärtsstürmte. «Sie müssen ins Fernsehen!»
Äh, oder kennt vielleicht hier jemand ein Vroni, Hildy, Rösi oder Elsi?

www.benediktmeyer.ch
 
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