Texte
uttiputtiii und gilligilliii
'Geschwisterliebe'
Esther Maag
Sie war die grösste Aufregung meines 9-jährigen Lebens: meine Schwester. Und ich war alleine zuhause, vermutlich zum ersten Mal, was durchaus eine gewisse Logik hatte, denn klar: Mutter war am Gebären, Vater am Vater werden. Nur war das noch nicht so klar, als ich zur Schule ging, erst als ich nachhause kam, war es klar, weil da niemand war.

So viel Logik war mir schon zu eigen und ganz so unerwartet kam es ja auch nicht. Bei der Nachbarin, die mich hätte abfangen sollen, klingelte ich nun Sturm. Die Ankunft eines zweiten Geschwisters wurde bestätigt, inzwischen war auch die Grossmutter unterwegs und ich völlig aus dem Häuschen.

Sofort musste zur Besichtigung geschritten werden im Kantonsspital Liestal. Ich bin die 2 km ins Kantonsspital wohl mehr gerannt als geschritten, so dass die Grossmutter kaum mithalten konnte und ich konnte es kaum erwarten, Schwester Ruth von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen.

Doch diese machte mir einen gründlichen Strich durch die Rechnung, was ich ihr nie verzieh. Anstatt ihrer grossen Schwester Esther ehrfürchtig zum ersten Mal ins Antlitz zu schauen, was tat Schwester Ruth? Schlicht und ergreifend schlafen. Sie schlief tief und fest, die zusammengedrückten Äuglein kaum sichtbar im Schrumpelgesicht. Damit misslang die Ankunft von Schwester Ruth gründlich. Nicht nur war sie hässlich, sie hatte auch noch die Frechheit zu schlafen. Und beides sollte sich nicht so schnell ändern.

Sie schlief ständig und viel und ihr Aussehen veränderte sich nicht zu ihrem Vorteil, denn sie wurde fett und fetter. Bekam richtige Speckwülste, ein Doppelkinn, Knubbelfinger und erst die Füsse, die waren das allerschlimmste: fette, unförmige Babyfüsse. Finde ich bis heute hässlich. Doch irgendwie gewöhnt man sich auch an Hässlichkeit, zum Glück vermutlich.

Immerhin war sie irgendwie unterhaltsam. Denn wenn sie dann endlich mal ihre Schlitzaugen in den Fettwülsten halbwegs offen hatte, starrte sie einen unverwandt an und wenn man sie kitzelte und uttiputtiii zu ihr sagte, verzog sie ihren zahnlosen Mund zu einem breiten Grinsen. Und das wiederum fand auch der sechsjährige Bruder lustig. So kam es, dass Schwester Ruth, Tochter eines gebildeten Germanisten, ihre ersten sprachlichen Inputs fast ausschliesslich in sämtlichen Variationen von uttiputtiiis bekam. Der Lernzuwachs muss bereits da beträchtlich gewesen sein, doch uttiputtiii sollte nur der Anfang der rasanten kognitiven Entwicklung sein.

Denn sehr bald schon entdeckten mein Bruder und ich den pädagogischen Wert von Mickymausheften. Die liebten wir ja selber über alles, sie waren im Haus des besagten Germanisten aus literarischen und pädagogischen Gründen aber gar nicht gern gesehen und deshalb eine Rarität. Für umso wertvoller hielten wir sie. Und was für uns galt, musste auch für Schwester Ruth Gültigkeit haben.

Wir hatten bei unserem Kater Mick gelernt, dass wenn man ihm etwas vor die Nase hielt, was sich bewegte, dass er dann in die Gänge kam, auch wenn er vorher völlig teilnahmslos rumfläzte. Was beim Kater funktionierte, probierten wir nun auch bei der Schwester aus, denn kognitiv waren die beiden ja ziemlich auf der gleichen Stufe.

Wir hielten ihr also ein Mickymausheft vor die Nase und zogen es langsam von ihr weg.
Es funktionierte, denn tatsächlich hob sich der Wurm nun auf alle Viere und versuchte das Mickymausheft zu greifen, was wir natürlich nicht zuliessen, sondern wir zogen es immer weiter von ihr weg, so dass ihr nichts anderes übrigblieb, als in die Gänge zu kommen und krabbeln zu lernen – weit vor dem dazu vorgesehenen Alter. Das war praktische Entwicklungshilfe und wertvoll für die körperliche und künstlerische Früherziehung. Unsere Eltern waren da glaub etwas anderer Ansicht, aber recht hat, wer Erfolg hat.

Wir Geschwister schliefen im ersten Stock, die Eltern im Zwischenstock darunter. So kam es, dass meist ich die erste war, die Schwester Ruth nächtens brüllen hörte. Weil das nervte, stand ich halt auf und ging rüber. Zu dem Zeitpunkt war mir schon voll bewusst, dass sämtliche uttiputtiis in der Nacht nichts nützten, da gab es nur Schoppen oder keinen Schoppen. Und weil kein Schoppen die Brüllvariante bedeutete, gab es halt Schoppen, auch wenn das hiess, zuerst Nuggi reinstecken oder Baby unter den Arm klemmen und mitten in der Nacht in die Küche runter tappsen und Schoppen wärmen. Das hatte ich ziemlich schnell ziemlich gut drauf, so dass die Mutter es oft nicht einmal mehr mitbekam, wenn Nesthäkchen Ruth gebrüllt hatte, da sie längst wieder schlief.

Auch das Wickeln fand sich bald mal in meinem Repertoire, auch wenn ich’s gruusig fand. Was sein musste, musste sein, da war ich pragmatisch. Hauptsache das Gebrüll hörte auf. So ganz ging die Rechnung auf die Dauer allerdings nicht auf. Ständig brauchte das Ding irgendwas, verlangte nach Input und forderte kontinuierliches Investment und was hatten wir davon? Nichts als Gebrüll und Gestank, vielleicht manchmal ein Dank von Mutters Seiten. Doch das reicht nicht, das rächte sich, bzw. verlangte nach Rache.

Als erstes versuchten wir es mit kneifen. Das reizte eh, denn Fett war ja genug da, wo man so richtig gut reingreifen und kneifen konnte. Wenn wir es nicht übertrieben, ernteten wir ein Grinsen. Das war lustig und reizte zu mehr. Dann ging das Grinsen aber meist schnell in Brüllen über, was die Mutter auf den Plan gerufen hätte.

Aufgrund unserer guten Erfahrungen mit den uttiputtiiis versuchten wir es nun mit giligiliii und auch dieser wertvolle linguistische Input funktionierte: Aus dem Brüllen wurde wieder ein Grinsen und so ging das hin und her: kneifen – grinsen – brüllen – gilligiliii – grinsen – kneifen.

Bald entdeckten wir auch, dass wir zu dem Ding so ziemlich jede Schändlichkeit sagen konnten, solange wir es in zuckersüssem Ton taten. Unsere Phantasie kannte da bald keine Grenzen mehr und so säuselten wir: «Oh Du Schätzeli, gleich schmeissen wir Dich aus dem Fenster. Sollen wir Dein süsses Köpfchen umdrehen? Oder wollen wir heute Bratwurst aus Dir machen?»

Helle Begeisterung und entzückendes Strahlen war uns sicher, selbst bei den grössten Gemeinheiten. Denn wir kümmerten uns schliesslich höchst hingebungsvoll um unser kleines Schwesterchen und liessen es an keinerlei Zuwendung fehlen.

Eigentlich ein Wunder, dass unsere Schwester so viel Geschwisterliebe relativ unbeschadet überstanden hat. Bei meinem Bruder und mir hat es nachhaltiger gewirkt: Mit Babys waren wir durch, die kamen uns nicht mehr ins Haus. Ich habe meine Töchter mit 10 und 12 adoptiert, unser Bruder hat es gar nicht erst versucht, doch unsere Schwester Ruth ist eine liebevolle Mutter und Stiefmutter geworden.

Und bis heute verbindet uns drei Geschwister diese kooperative und konstruktive Zusammenarbeit, die wir schon früh einstudiert und orchestriert haben. Wir können uns aufeinander verlassen – und dies trotz oder eben dank allen uttiputtiis und giligiiiis.

PS: Auch das mit dem Babyspeck hat sich gründlich ausgewachsen, nur dass das noch gesagt ist.
 
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