Texte
Waldbrände - und mehr
Thomas Schneider
VOR DEM VERLASSENEN SUPERMARKT

Drei Grashalme auf dem öden Parkplatz
nicken im frostigen Wind
Ich schau mich um und mache kehrt auf dem Absatz
Wo all die Autos geblieben sind
die Menschen die früher jede Blume im Asphalt zertrampelten
die pausbäckigen Wesen die in Kinderwagen strampelten?
Das Personal musste einst Moos von den Stufen am Eingang wegkratzen
Was überquoll aus den Abfalleimern überliess man den Krähen und Spatzen
Jetzt sind Vögel und Menschen fort
ausgewandert an einen bunteren Ort


ZWEI SWIMMINGPOOLS

Das Haus ist nicht geheuer
(Albin Zollinger)

Eine Führung wie durch einen Maklerkatalog
Zwei Swimmingpools starren zum Himmel
randvoll gefüllt
ein rechteckiges und ein ovales Becken
die Wasseroberfläche glatt wie Lügen
verziert mit wenig Herbstlaub

Die Bewohner auf der Flucht
vielleicht vor sich selber
in eine umtriebigere Stadt

Die Liegestühle abgeräumt
Die Eiscrèmeflecken auf dem Betonrand
vom Regen abgewaschen

Hinter dem offenen Fenster des Kinderzimmers
flattert im Durchzug
die eingerissene Ecke eines Filmplakats
mit einem aus der Deckung
brechenden Soldaten

Hinter einem Kleiderständer
hat sich ein Luftballon verkeilt
und verborgen
Ich befestige die Schnur am Handgelenk
und folge ihm
zur Bahnstation


KAFFEE!

Lass dich nicht so heftig aufs Bett plumpsen, dass es mich auf meiner Seite in die Höhe
hebt und fast aus dem Bett schleudert! Spiel nicht immer den Kasper, schimpft meine Freundin.
Nicht den Kasper, eher den Urenkel von Kasperle, wende ich ein, während ich nach dem
Aufstehen mit fortzu neu verknoteten Fussgelenken den Gang hinunterstolpere
und beinahe auf die Nase falle.
Wie lange ist es wohl her, seit bei dem tapferen alten Pfiffikus der letzte Vorhang fiel? Ich erinnere mich nicht. Aber Kinder erzählen immer wieder mit strahlenden Augen, sie hätten ihn kürzlich in einer Aufführung angetroffen, im Kindergarten oder in einem Jahrmarktszelt.
Ich sause in die Küche, um uns einen würzigen Kaffee zu brauen. Ich mahle ihn von Hand in der Kaffeemühle von Kasperles Grossmutter, nachdem ich die schwarzen Bohnen durch den zu engen Schlitz in den Trichter habe einfüllen müssen. Das dauert eine Weile.
In Wahrheit handelt es sich eher um eine Urenkelin der angesprochenen Kaffeemühle, die
meine Freundin kürzlich in einem Warenhaus erstanden hat, eine Art Einmachglas mit
einer aufgeschraubten Kurbel über dem Mahlwerk. Brandneu.
Ihre Glaswände leuchten im Kerzenschein auf dem Frühstückstisch auf und säen einen
Strauss Regenbogenfarben prismatisch aufs weisse Tischtuch.
Der unter der Kurbel hervorquellende Duft verwandelt, wie ein uns wohlgesinnter Dschinn,
jeden denkbaren Tadel in ein Liebesgedicht. Da pfeift auch bereits der Wasserkocher, etwas schrill zwar.
Ich hebe die Kanne von der elektrischen Platte und giesse das heisse Wasser mit zu viel Schwung über das Kissen aus schwarzen Pulver im gläsernen Krug, dass es vom Boden herauf zischt. Schwarze Wolken und Klümpchen steigen seitlich die Wände hoch,
und wir gucken diesem Schauspiel zu, gebannt wie Zoobesucher vor einem Aquarium: Kasperle und die Prinzessin für einmal Hand in Hand, für einmal miteinander und gleichzeitig gerettet.
Umrühren und fertig, sage ich und greife schon nach dem Löffel, um ihn ins Schaumkissen auf der Oberfläche des Kaffees zu tauchen. Die Freundin widerspricht: wir warten mit dem Umrühren noch ein paar Minuten. Hast du schon eine Prise Kakaopulver über den Kaffee gestreut?


SOMMERREGEN IM MORGENGRAUEN

Das Fenster stand weit offen
Von den Zweigen und Blättern troffen
eben noch Sturzbäche vom Regen

Ich wollte mich nicht bewegen
nur vom Bett aus lauschen
Das mächtige Rauschen
des Windes in der Krone der Weide
liess uns beide
eintauchen in seinen Gesang

Mit hellem Klang
lädt auch der nachlassende Regen ein
jetzt still beieinander zu sein
auf diesem Floss
fast regungslos


LESEN IM GARTEN

Ist dies ein Unterschied der etwas bedeutet?
Ob die Glocke am Bahnübergang oder eine Glockenblume läutet
im Garten fast zu hell und fein

Selbst das Rattern des Zuges auf dem Geleise
vernehm ich hier aus der Ferne bloss leise
Die Strecke zum Bahnhof geschätzt eine Meile
wäre in Minuten zu schaffen ohne Eile
Ich lasse es sein

Der Wind streift beim Lesen sacht meine Wange
Schon vorher war mir nicht mehr bange
als sich meine Augen in den lila Iris verfingen
deren Blüten in der Sonne heraldisch aufgingen

Schatten flackern unter der Weide - dunkles Kerzenlicht
über Butter und Marmelade - es ist aufgetischt
Aus einem abgesägten Weidenstock eingesetzt am Spalier
spriessen mutig junge Blätter zu dir und zu mir


BESUCH AUF DER GESCHLOSSENEN ABTEILUNG

Eine weisshaarige bucklige Frau
schiebt einen schweren Ledersessel
vor sich her den Gang hinunter
schemenhaft
hinter dem Milchglas der Schiebetür

Ich habe zweimal geläutet
Mir wird nicht aufgetan
bis der Schatten des Oberpflegers
der mich vom Haupteingang her
einholt
von hinten auf meine Schultern fällt

Er trägt eine rote Sportjacke

Die Tür öffnet sich geräuschlos
nach der Umdrehung seines Schlüssels
im Sicherheitsschloss

Wir weichen der Frau
mit flinken Schritten aus
um sie rechts zu überholen
Nur noch dieses eine Mal
murmele ich
und verstehe mich selber nicht

Wir grüssen sie dabei
mit einer leichten Drehung
des Kopfes nach links

Dann heisse ich
einen gleichaltrigen Mann willkommen
der heute wegen seiner Verwirrtheit
eingetreten ist
Er blättert in einem Prospekt
des Alpenclubs
Als das Foto einer Berghütte
im Gotthardmassiv
ihn anspringt
weint er

Bei der gemeinsamen Besprechung
trägt der Pfleger
eine blaue Arbeitsbluse

Auf dem Rückweg
hätte ich der Frau gern
eine leichte Nachtruhe gewünscht
Aber offensichtlich ist sie
ehe mein Blick sie suchte
in ein Zimmer entschwunden
und hat mit dem Ledersessel
ihr Ziel erreicht


WALDBRÄNDE

Das reich bebilderte Pflanzenbuch
lag eben noch still auf dem grünen Tuch
Plötzlich springt es vom Tisch
hinaus in den Garten
Es wimmert und schreit
dass der bissige Rauch
aus Baum und Strauch
seit geraumer Zeit
auch seine bedruckten Seiten hochsteigt

Die neueste Zeitung zeigt
Fotos Vertriebener die tränenlos weinen
weil die Augen auch brennen
Nackte Füsse rennen
auf nackten heissen Steinen
auf der Flucht
vor Aschenregen und Feuer
Keine Reise wurde so vorher gebucht
Kein Ziel ist mehr geheuer
Die gelborangen Flammen
rotten sich auch um Flüsse und Seen zusammen

Das in grünes Leinen gebundene Buch
flieht zurück auf den Tisch
mit dem gleichfarbigen Tuch
Der aufkommende Wind bläst gefährlich frisch
Die Wolken tanzen wild
Jede Seite jeder Buchstabe jedes Bild
windet sich und schreit
es bleibt keine Zeit
zum Warten
 
schliessen
Texte
17. September 2023
 
17. September 2023
 
09. Juli 2023
 
09. Juli 2023